II. Die Ausdrücke ‹abstrakt› und ‹konkret› sind von
Boethius in die philosophische Sprache eingeführt worden, werden von ihm jedoch nur selten verwendet und noch nicht als festes Gegensatzpaar gebraucht. Er übersetzt in ‹De Trinitate› das von Aristoteles im Rahmen seiner Einteilung der Wissenschaften gebrauchte
χωριστά mit «abstracta»: Theologie behandelt das von der Materie «Getrennte», das von Materie freie «rein» Geistige
[1]. Physik und Mathematik handeln nicht über derart rein Geistiges, auch die Mathematik beschäftigt sich mit solchen Gegenständen, die wenigstens dem Sein, wenn auch nicht der Betrachtung nach, von der Materie «inabstracta» (ungetrennt) sind. Mit diesem Wort übersetzt Boethius das aristotelische
ἀχώριστα, das nach der traditionellen, heute umstrittenen Lesart des aristotelischen Textes die Gegenstände der Physik und Mathematik kennzeichnet
[2].
Während es in der Scholastik durchaus üblich wurde, das von der Materie seinsmäßig Getrennte als ‹abstrakt› zu bezeichnen, und zwar auch deshalb, weil in der Geschichte des Wortes ‹Abstraktion› (s.d.) eine seiner Bedeutungen die Trennung von der Materie wurde, bleibt der Gebrauch des Ausdrucks ‹inabstractum›, der sich in den Kommentaren zu der genannten Schrift des Boethius findet, wohl beschränkt, zumal
ἀχώριστος auch durch ‹inseparabilis› wiedergegeben wird. Sofern aber
Gilbert de la
Porée ‹inabstractum›, welches Wort Boethius auf die «mit der Materie verbundene Form» bezogen hatte
[3], durch den Ausdruck ‹concretum› erläutert (concreta et inabstracta) und in diesem Zusammenhang die reinen einfachen Formen und Urbilder «abstrakt, keineswegs konkret» (abstractae et eis [sensibilibus] minime concretae) nennt
[4] – und in ähnlichem Sinn verwendet auch
Clarenbaldus von Arras den Ausdruck ‹konkret›
[5] –, wird damit der spätere Gebrauch des Gegensatzpaares ‹abstrakt› und ‹konkret› vorbereitet.
Boethius hatte aber auch selber im Rahmen seiner Lehre von der Abstraktion (
ἀφαίρεσις) erklärt, die «unkörperliche Natur», d.h. die Art oder Gattung sei mit dem Körper «zusammengewachsen» (concreta) und könne vom Intellekt in der Abstraktion aus dieser Verbindung herausgelöst werden
[6]. Die so durch Abstraktion gewonnenen Begriffe und mathematischen Gegenstände nennt Boethius aber nicht abstracta. Zwar spricht
Isidor von Sevilla in diesem Sinn von «abstrakter Quantität»
[7], was später z.B.
Hugo von St. Viktor in einem fast wörtlichen Zitat wiederholt
[8], aber die durch Abstraktion gewonnenen Begriffe wurden deshalb nicht abstrakt genannt, weil mit der vollen Ausbildung und Verbreitung der Abstraktionslehre auch der gleich zu nennende Sprachgebrauch von ‹abstrakt› und ‹konkret› üblich wurde, nach dem innerhalb der abstrahierten Begriffe abstrakte und konkrete Termini zu unterscheiden sind. Erst als diese bis ins 18. Jh. übliche Unterscheidung nicht mehr wichtig oder bekannt war, konnten die unanschaulichen und relativ leeren Begriffe insgesamt gegenüber dem anschaulich gegebenen Konkreten als ‹abstrakt› bezeichnet werden.
Für die Ausbildung der Unterscheidung zwischen abstrakten und konkreten Begriffen ist aber nochmals auf
Boethius zu verweisen, weil auch das von ihm aufgestellte Axiom über die Verschiedenheit von Sein und dem, was ist (diversum est esse et id quod est)
[9], ein Ursprung dieser Unterscheidung ist. Nachdem nämlich
Gilbert de la
Porée diese Differenz durch die Verschiedenheit von ‹corporalitas› und ‹corpus› sowie von ‹humanitas› und ‹homo› erläutert und bemerkt hatte, Sein, Körpersein und Menschsein werde abstrakt betrachtet (abstractim attenditur), sei aber mit der Materie und dem Subjekt verbunden, ungetrennt (inabstractum)
[10], was nach Gilbert auch ‹konkret› genannt werden kann, erklärt
Thomas von Aquin dieses Axiom von der Verschiedenheit abstrakter und konkreter Begriffe (rationes seu intentiones) her: «Laufen und Sein werden in abstracto bezeichnet wie auch die Weißheit (albedo), aber was ist, d.h. Seiendes und Laufendes wird in concreto bezeichnet wie auch das Weiße (album)»
[11].
Der damit genannte Unterschied zwischen abstrakten und konkreten Namen, Termini oder Begriffen, wobei abstrakte Namen einen Akt (Tätigkeit oder Eigenschaft) oder eine Form ohne ihr Subjekt benennen, während konkrete Begriffe den Akt oder die Form als «zusammengewachsen» mit ihrem Träger bezeichnen, stammt freilich auch der Terminologie nach nicht von Thomas von Aquin; die Distinktion ist vielmehr in einer ganz nahen Vorform schon in der zweiten Hälfte des 12. Jh. bei
Alanus de
Insulis nachzuweisen. Dieser unterscheidet in seinen ‹Theologicae Regulae› nämlich «mathematische oder ursprüngliche Namen» (nomina mathematica sive principalia), die «mathematisch, d.h. abstraktiv» (mathematice, id est abstractive) eine Eigentümlichkeit bezeichnen ohne den Hinblick aufs Subjekt, wie ‹albedo›, und «konkretive oder angewandte Namen» (concretiva sive sumpta), die die Eigentümlichkeiten konkretiv, d.h. als den Subjekten inhärierend bezeichnen, wie ‹album›
[12]. Diese Unterscheidung führt zu der «Regel», daß alle «mathematischen Namen», die mehr zur Einfachheit hin tendieren, «weniger uneigentlich» von Gott ausgesagt werden als die konkretiven
[13].
Diese Unterscheidung wurde dann unter Änderung des Ausdrucks ‹mathematisch› in ‹abstrakt› im 13. Jh. allgemein üblich, zumal auch
Averroes z.B. die Namen ‹Leben› und ‹Lebendes›, die eine Form ohne ihren Träger oder in ihrem Subjekt bezeichneten, unterschieden hatte
[14].
Während
Wilhelm von Auvergne wenigstens gelegentlich von abstrakten Namen, wie ‹deitas›, und konkreten Namen, wie ‹deus› (nomen abstractum – nomen concretivum), spricht
[15], erklärt
Bonaventura, der abstrakte Name oder Terminus (z.B. albedo) werde der Form und von der Form her beigelegt, der konkrete Name oder Terminus (z.B. album) werde zwar von der Form, aber nicht der Form, sondern dem Suppositum, der in sich bestehenden Sache, beigelegt
[16].
Albertus Magnus stellt fest, das Abstrakte werde nicht vom Konkreten prädiziert und umgekehrt
[17].
Kontrovers ist seit dem 13. Jh. der
ontologische Status des durch abstrakte Begriffe Bezeichneten. Entsprechend den verschiedenen Lehren über die Realität des Allgemeinen sind vor allem drei Lösungsrichtungen zu unterscheiden:
Erstens wird in Fortführung des
platonischen Realismus des 12. Jh., demgemäß, wie z.B.
Clarenbaldus von Arras lehrt, «das eine und selbe Menschsein» (humanitas), zu dem die die Vielheit begründenden Akzidentien treten, «das ist, wodurch die einzelnen Menschen Menschen sind»
[18], das Abstrakte als Grund und Urbild des Konkreten behauptet. So präexistiert nach
Meister Eckhart «das Konkrete im Abstrakten wie das Teilnehmende in dem, an dem es teilnimmt»
[19]. Ähnlich heißt es bei
Nikolaus von Kues, das Abstrakte sei kontrahiert im Konkreten, wobei dem wesentlich endlichen Abstrakten, wie Weißheit, freilich kein selbständiges Eigensein zugeschrieben wird
[20].
Zweitens bezeichnen nach
Thomas von Aquin konkrete Begriffe «etwas zusammengesetztes Vollständiges», «an sich Subsistierendes»; abstrakte Begriffe hingegen bezeichnen etwas «nach Art einer Form», die einfach ist, aber nicht für sich besteht, und so bezeichnen sie etwas «non ut quod est, sed ut quo est»
[21], d.h. nicht als subsistierendes, für sich bestehendes Seiendes, sondern als unselbständiges Prinzip, das, wie Sein, substantiale Form und Urmaterie nur im Begründen des konkreten Seienden ist
[22]. Aber wie eine substantiale Form eine Substanz, so begründet eine auch in einem abstrakten Begriff zu fassende akzidentelle Form die konkreten Eigenschaften oder Tätigkeiten der Substanz, von denen her wiederum das Subjekt in einem konkreten Namen benannt werden kann
[23]. Weil abstrakte Namen Einfaches, aber nicht Subsistierendes, konkrete Namen Subsistierendes, aber Zusammengesetztes bezeichnen, ist Gott mit konkreten und abstrakten Namen zu benennen, deren Bezeichnungsweise (modus significandi) jedoch stets teilweise zu negieren ist
[24].
Drittens deutet
Duns Scotus das von abstrakten Begriffen Bezeichnete im Sinne seiner Metaphysik. Konkrete Begriffe sind unmöglich einfacher als abstrakte Begriffe
[25], denn das Abstrakte, z.B. die Weißheit, wird ohne das Subjekt (den Gegenstand, der weiß ist) oder in noch weiterer Abstraktion ohne das Suppositum (diese wirkliche Weißheit) als von Individualität und Wirklichkeit absehender reiner Sachgehalt genommen
[26]. «Indem das Abstrakte in letzter Abstraktion konzipiert wird, wird die Wesenheit ohne Verhältnis zu irgend etwas, was außerhalb ihres eigentümlichen Wesens ist, verstanden»
[27]. Dieser in seiner reinen Möglichkeit auch notwendige Sachgehalt ist real im Sinne der natura communis (s.d.).
Gegenüber einer durch «realistische» Voraussetzungen und Implikationen charakterisierten Unterscheidung zwischen abstrakten und konkreten Namen und Begriffen geht
Wilhelm von Ockham bei seiner umfangreichen Abhandlung über abstrakte und konkrete Namen
[28] allein vom gesprochenen oder geschriebenen Wort aus, das er freilich auf das verbum mentis, den gedachten Begriff, zurückführt
[29]. Unmittelbar nach der Unterscheidung kategorematischer und synkatego-rematischer Termini werden abstrakte und konkrete Namen dahingehend bestimmt, daß sie dem Laute nach einen ähnlichen Anfang haben, aber nicht ein ähnliches Ende. Der abstrakte Name habe immer oder häufig mehr Silben als der konkrete, und endlich sei der konkrete Name häufig Adjektiv, der abstrakte Substantiv
[30].
Im einzelnen behandelt Ockham dann zunächst
nichtsynonyme konkrete und abstrakte Namen, die für verschiedene Dinge supponieren. Dazu werden «gleichsam drei Unterarten» genannt: 1. Der abstrakte Name supponiert für ein Akzidens oder eine real dem Subjekt inhärierende Form, der konkrete Name für das Subjekt desselben Akzidens oder derselben Form, z.B. ‹albedo – album› oder ‹sciens – scientia›. Der abstrakte Name kann aber auch umgekehrt für das Subjekt, der konkrete für das Akzidens dieses Subjektes supponieren, z.B. ‹ignis – igneus›. – 2. Der abstrakte Name supponiert für den Teil, der konkrete für das Ganze, z.B. ‹anima-animatum›. – 3. Abstrakte und konkrete Namen können für verschiedene Dinge supponieren, die zueinander im Verhältnis von Ursache und Wirkung, Zeichen und Bezeichnetem oder Ort und im Ort Befindlichem stehen, z.B. ‹England› und ‹Engländer›
[31].
Als
synonyme abstrakte und konkrete Namen sind Ausdrücke wie ‹Deus – Deitas›, ‹homo – humanitas›, ‹animal – animalitas› anzusehen, aber auch Wörter wie ‹quantum – quantitas›, ‹longum – longitudo›, ‹simum – simitas›, ‹causa – causalitas›
[32]. Die Äquivalenz von ‹homo› und ‹humanitas› ergibt sich daraus, daß sich ‹homo› zu ‹humanitas› verhält wie ‹Sortes› zu ‹Sorteitas›. Da diese nichts Verschiedenes bezeichnen, tun es auch ‹homo› und ‹humanitas› nicht, was freilich im Hinblick auf die hypostatische Union eingeschränkt wird
[33].
Da abstrakte Namen mehr der gelehrten als der gewöhnlichen Sprache (dicta philosophorum – vulgaris locutio) angehören, kann es ferner auch solche abstrakte Namen geben, die
Abkürzung für mehrere Ausdrücke oder für viele Aussagen und ihnen äquivalent sind. So könnte z.B. ‹humanitas› äquivalent mit ‹homo inquantum homo› gebraucht werden. Durch solche Interpretationen abstrakter Namen können viele Aussagen anerkannter Autoren «gerettet» werden, die in ihrem Wortlaut falsch zu sein scheinen
[34].
Endlich nennt Ockham solche abstrakte Namen, die für eine zugleich genommene
Vielheit von Einzelnen
stehen, während die entsprechenden konkreten Namen von einem Einzelnen ausgesagt werden können, z.B. ‹plebs – plebeius›. Vollständigkeit beansprucht Ockham mit dieser Klassifizierung nicht
[35], die insgesamt – trotz des Ausgangs vom «äußeren» Wort – mit der Negation eines irgendwie realen Allgemeinen in den Dingen und einer realen Verschiedenheit von Substanz und Quantität genau seiner Ontologie entspricht.
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Boethius, De Trinitate II. MPL 64, 1250. |
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Vgl. Aristoteles, Met. VI, 1, 1026 a 14; vgl. zu den umstrittenen Lesarten J. Owens: The doctrine of being in the Aristotelian Metaphysics (Toronto 1951) 382. |
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Gilberti Porretae Commentaria in De Trin. MPL 64, 1266f. |
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W. Jansen: Der Kommentar des Clarenbaldus von Arras zu Boethius De Trinitate (1926) 55*. |
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Boethius, In Porph. Comm. I. MPL 64, 84. |
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Vgl. Ueberwegs Grundriß der Gesch. der Philos. 2: Die patristische und scholastische Philos., hg. B. Geyer ( 121951) 264. |
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Boethius, Quomodo substantiae bonae sint. MPL 64, 1311. |
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Gilberti Porretae Comm. in lib. Quomodo ... MPL 64, 1318. |
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Thomas, In De Hebd. 2 (22). |
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Alanus de Insulis, Theologicae Regulae XXX. MPL 210, 635f. |
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Averroes, In Met. XII, 3 (Venedig 1562, Nachdruck 1962) fol. 322v. |
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Wilhelm von Auvergne, De universo I, 1, c. 1. Opera (Paris 1574, Nachdruck 1963) 1, 686. |
|
Bonaventura, I. Sent. 4, 1, q. 1. |
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Albertus Magnus, De bono I, 1, art. 5, hg. Kühle, Feckes u.a. (1951) 10. |
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Clarenbaldus, a.a.O. [5] 42*. |
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Eckhart, In Joh. n. 14. Lat. Werke 3, 13. |
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Nikolaus von Kues, De docta ignorantia II, 4; vgl. II, 1. |
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Thomas, I Sent. 33, 1, 2, 5; 34, 1, 1; S. contra gent. I, 30. |
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Vgl. z.B. De ver. 3, 7, 2 mit De virt. 11; zur Interpretation L. Oeing-Hanhoff: Ens et unum convertuntur (1953) 101. |
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Thomas, S. theol. I, 13, 1, 2. |
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Duns Scotus, Theoremata, Theor. IX. |
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Quaest. sup. lib. Met. III, 1; vgl. die Aufnahme und Weiterbildung dieser Distinktionen durch Petrus Tartaretus, Comm. in lib. praedicamentorum (Basel 1514) fol. 23v. |
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Ord. I, 8, p. 1, q. 4, n. 219 (hg. Balic). |
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Wilhelm von Ockham, S. logicae, Pars Prima, hg. Ph. Boehner (1957); c. 5–9 a.a.O. 16–33. |
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