Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Adam Kadmon

Adam Kadmon Anthropologie Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft Judentum Urmensch 5030 10.24894/HWPh.5030Georg NadorHans Jörg Sandkühler
I. A.K. (hebr. Urmensch) ist in der ältesten jüdischen Mystik eine der Bezeichnungen der Gottheit, in der späteren Kabbala die erste Emanation der Gottheit. Da die Kabbala in vieler Hinsicht zur mythologischen Auffassung der Gottheit regrediert, braucht sie verschiedene Urbilder, um gewisse Aspekte der Gottheit auszudrücken. Die wichtigsten theologischen Urbilder in der Kabbala sind: der Baum und die Gott-Mensch-Analogie. Durch das Bild des Baumes kann die gegenseitige Beziehung zwischen den verschiedenen Qualitäten der Gottheit anschaulich gemacht werden (die zehn Sefiroth als Äste des Urbaumes). Das Bild des Urmenschen dient dem Zweck, die Gottheit für die Phantasie greifbar zu machen, da die mystische Gottheit der Kabbalisten, Ensoph (das Unbegrenzte), sonst zu abstrakt gewesen wäre. Das Makro-Anthropos-Bild erlaubte den Kabbalisten auch die Anthropomorphismen der Bibel zu rechtfertigen. Sie stellten sich durch dieses Bild – das sie mehr oder weniger symbolisch auffaßten – in eine große mystische Tradition (Mikrokosmos-Makrokosmos) und sicherten sich den begrifflichen Apparat zu einem organischen Weltbild bzw. einer organischen Theologie. Besondere Wichtigkeit gewinnt die Konzeption des A.K. bei den Kabbalisten von Saphed im 16. Jh. (Luria, Vital). Die kühnen Bilder der Kabbalisten – darunter auch die erotischen – wurden besonders von den liberalen jüdischen Theologen und Religionsphilosophen des 19. Jh. scharf abgelehnt.
S. A. Horodetzky: A.K., in: Encyclop. Judaica (1928). –G. Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (1957).
II. Die Rezeption des A.K.-Topos in der idealistischen und romantischen deutschen und französischen Philosophie des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jh. spiegelt die antirationalistische, mystischer Spekulation und mythologischer Tradition sich bedienende Sezession in der neueren Geschichtsphilosophie wider.
Hegel hatte in seiner Religionsphilosophie und Geschichte der Philosophie A.K. bei Philo von Alexandrien (A.K. als Synonym für σοφία und λόγος[1]), in der alexandrinisch beeinflußten Gnosis und vor allem im Manichäismus (A.K. als ‹himmlischer Mensch›, ‹Urmensch›, im Gegensatz zur Seele des irdischen Menschen, die im Materiellen gefangen ist [2]) nachgewiesen und den Begriff als vorphilosophisches Mythologem kritisiert, das zwar über den Stand der Naturreligion fortgeschritten sei [3], aber im Versuch, die Idee der Trinität zu denken, «die abendländische Wirklichkeit durch den orientalischen Idealismus zu einer Gedankenwelt verflüchtigt» [4]; er hatte die Begriffsgeschichte in der jüdischen Kabbala (A.K. als Identitätsprinzip des Seins, von dem alle Emanation zum Seienden ausgeht [5], wobei die Identität nur in der ‹Person› A.K. eine Differenz aufweist, als σοφία aber Indifferenz ist [6]) und in der christlich-scholastischen Offenbarungsspekulation weiterverfolgt [7].
Dagegen gibt es in der romantisch-idealistischen Mythologiephilosophie inhaltliche Identifikationen. Diese Philosophie wird, dies zeigt das Beispiel F. v. Baaders und F. W. J. Schellings, aus einem Kontinuum mythologischer und mystischer Überlieferung gespeist, das über die Gnosis, den Manichäismus, die kastilische jüdische Kabbalistik des 13. Jh. (vor allem das Buch ‹Sohar›) und frühe deutsche Mystik (Meister Eckhart und Tauler[8]), über die Kabbala in Saphed (16. Jh., I. Luria) und – gleichzeitig – die protestantische Mystik J. Böhmes bis zu Saint Martin, Baader, Fr. Schlegel und Schelling reicht. Wesentliches Vermittlungsmedium zwischen der Kabbala, Böhme (der Adam als «das ausgesprochene Wort», als «an Luzifers Stelle erschaffen» und «im Fall Luzifers nicht erstarrt», als «in Jehovah in Adam offenbar» und – analog zur kabbalistischen Zweigeschlechter-Hypothese – als «eine männliche Jungfrau» bezeichnet [9]) und dem romantischen Idealismus ist die christliche Eschatologie der ‹Schwabenväter› des frühen 18. Jh. (J. A. Bengel und Fr. Chr. Oetinger[10]). So schreibt Oetinger in seiner Autobiographie: «Was die Kabbala beträfe, so hätten wir Christen ein Buch, das noch viel deutlicher von der Kabbala rede, als Sohar ... Jakob Böhme» [11]. Schellings Oetinger-Kenntnis ist seit 1803 belegt [12]. Der Mythos vom Sündenfall des A.K., vor Böhme von I. Luria in Analogie zur «Kontraktion Gottes», in der Gott der natürlichen Welt Raum in sich gibt (Schöpfung), als «Kontraktion» verfaßt, in der sich der Urmensch verselbständigt und aus der Identität des Absoluten löst, hatte auf Schelling wesentlichen Einfluß [13]. Mit der Identitätsphilosophie wurde die Mythologie (in der spekulativen Abstraktion der Mystik) zunehmend wichtig. Spezifisch kabbalistische Kenntnis verdankt Schelling nicht zuletzt dem Frankfurter J. F. Molitor, der im Briefwechsel (1806–1853) [14] die «kabbalistische Lehre von Ainsoph, A.K., der ursprünglichen geistigen Schöpfung, und dem Fall» mitteilt [15] («En Sof», die Wurzel der Dynamik der Offenbarung und Emanation, ist identisch mit Schellings Begriff des göttlichen «Ungrunds»). Gleich Schelling [16] beurteilt Molitor, der kabbalistisch «eine organische Wissenschaft für die Theologie» begründen will [17], den «Zustand des gefallenen Menschen ... durch die Betrachtung dessen, was er vor dem Fall gewesen» [18], als A.K. In völliger Übereinstimmung spricht Baader in seinen Erläuterungen zu Saint Martins ‹Le ministère de l'homme-esprit› (1802) von «A.K. als Urbild des Menschen, in und zu dem diese Welt geschaffen ist» [19]. Gemeinsames Kennzeichen dieser Verbindung von Philosophie und Mythologie, des Interesses an einer «neuen Mythologie», ist der systematische geschichtstheoretische Ort des Mythos vom A.K.: Er hat eine soteriologische Funktion. Die ideologische Motivation der Mythologiephilosophie ist die Frage nach der menschlichen Freiheit unter der Bedingung des ‹Bösen›. Sie beantwortet sie mit der Identifizierung von Sündenfall und Geschichtsanfang bzw. Offenbarung: Der Abfall des A.K. von Gott war notwendig für das Werden Gottes, die Negation der Gott-Mensch-Identität durch den Menschen in der ‹Natur Gottes› [20] selbst begründet. So fungiert A.K. im Rahmen einer Sündenfallslehre als ontologischer Beweis eines nicht durch bloße Negation definierten Menschlichen. Der «urbildliche Mensch», so der von Schellings Freiheitsschrift (1809) beeinflußte J. A. Kanne[21], «in welchem wir Götter und allzumal Kinder des Höchsten waren», «in welchem wir als der Eine Mensch ungetrennt geblieben wären» [22], ist die seinsgeschichtlich verbürgte Gewißheit einer Heilsgeschichte, die nicht im Sinne der rationalistischen Fortschrittstheorie der koexistierenden Vernunft der Subjektivität, nicht dem ‹Fortschritt der Rechtsverhältnisse› [23], anheimgestellt ist. Die Mythologiephilosophie verbucht mit A.K. «eine große Tatsache ..., die Existenz eines theogonischen Prozesses im Bewußtsein der ursprünglichen Menschheit» [24] und die Begründung einer Philosophie der Geschichte. A.K. ist das Symbol des wirklichen ‹goldenen Zeitalters›, die «rückwärts gewandte Utopie» [25], die «einen völligen Rückzug aus der Geschichte» [26] gerade in der Zuwendung zur Seinsgeschichte des Absoluten erlaubt. Die romantische Rezeption des A.K.-Mythos indiziert eine völlig veränderte Aufgabe der Mythologie: Sie wurde zum «Medium der Zeit- und Gegenwartskritik» [27] der Romantiker: «Wenn es nämlich gelingt, den Mythos vom A.K. zu denken, die Kategorie des anderen Absoluten aus dem wirklichen Anfang des Absoluten abzuleiten, dann ist dem praktischen Bedürfnis, die Möglichkeit eines wirklichen Endes der Korruption dieser Welt darzutun, theoretisch genüge getan» [28].
Hans Jörg Sandkühler
[1]
G. W. F. Hegel, Jubiläums-A., hg. H. Glockner (1927ff.) 19, 24.
[2]
a.a.O. 19, 136.
[3]
15, 296.
[4]
16, 244.
[5]
19, 28.
[6]
16, 245.
[7]
19, 136.
[8]
Vgl. Aus Schellings Leben. In Briefen, hg. G. L. Plitt 1–3 (1869/70) 2, 252/53.
[9]
F. X. v. Baader, Werke, hg. F. Hoffmann/J. Hamberger 1–16 (1860, Neudruck 1963) 16, 65f.
[10]
Vgl. Plitt 2, 179; vgl. Fr. Chr. Oetingers Leben von ihm selbst beschrieben, hg. S. Scheible (1927); H. J. Sandkühler: Freiheit und Wirklichkeit. Zur Dialektik von Politik und Philos. bei Schelling (1968) 182–185.
[11]
Oetingers Leben, a.a.O. [10] 48.
[12]
Vgl. Plitt, a.a.O. [8] 2, 179.
[13]
Vgl. J. Habermas: Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus – geschichtsphilos. Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes, in: Theorie u. Praxis. Sozialphilosoph. Studien (1965).
[14]
Vgl. Molitors Briefe an Schelling, in: Sandkühler, Freiheit und Wirklichkeit ... a.a.O. [10] 249–277.
[15]
a.a.O. 262.
[16]
Vgl. Schelling, Werke, hg. K. F. A. Schelling (1856–1861) 1, 325; II, 205; 9, 227; 7, 411; 6, 40; 13, 385; 6, 61/62; 7, 461/462; 6, 42. 63.
[17]
Molitors Briefe a.a.O. [14] 258.
[18]
J. F. Molitor: Philos. der Gesch. oder über die Tradition 1–4 (1827–1853) 1, 83.
[19]
Baader, a.a.O. [9] 12, 402.
[20]
Schelling, a.a.O. [16] 7, 357/358; vgl. J. Böhme, Schriften (1730, Nachdruck 1955) 28, 3; vgl. Baader, a.a.O. [9] 1, 233; 2, 3; 9, 219; 13, 358–362.
[21]
J. A. Kanne: Christus im AT. Untersuchungen über die Vorbilder und Messianischen Stellen 1. 2 (1818); vgl. Schelling, a.a.O. [16] 11, 224/225.
[22]
Kanne, a.a.O. 1, 123.
[23]
Vgl. Schelling, a.a.O. [16] 3, 582ff. 592/93, und die gegenteilige Formulierung der Philos. der Mythologie 11, 230.
[24]
a.a.O. 11, 229.
[25]
K. Ziegler: Die dtsch. Mythostheorie der Neuzeit, in: Merker/Stammler: Reallex. der Dtsch. Literaturgesch. (21965) 2, 578 b.
[26]
D. Schrey: Mythos und Geschichte bei Johann Arnold Kanne und in der romantischen Mythologie (1969) 252.
[27]
Ziegler, a.a.O. [25].
[28]
Habermas, a.a.O. [13] 123.
A. Wünsche: Schöpfung und Sündenfall des ersten Menschenpaares im jüdischen und moslemischen Sagenkreis (1906). –K. Leese: Von Jakob Böhme zu Schelling. Zur Met. des Gottesproblems (1927). –R. Schneider: Schellings und Hegels schwäbische Geistesahnen (1938). –E. Benz: Schellings theologische Geistesahnen (1955); Adam. Der Mythus vom Urmenschen (1955); Die christliche Kabbala (1958). –W. Schulz: Schelling und die Kabbalah, in: Judaica 13 (1957) 56ff. 210ff. J. Habermas s. Anm. [13].