Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Coincidentia oppositorum

Coincidentia oppositorum 563 10.24894/HWPh.563 Gerda von Bredow
Cusanus Metaphysik Zusammenfall der Gegensätze Paradies1 1022
Coincidentia oppositorum (Zusammenfall der Gegensätze) wurde als Erkenntnismittel der Docta ignorantia von Nikolaus von Kues konzipiert [1]. Die Co. bzw. C. contradictoriorum ist als Prinzip der Vernunfterkenntnis dem Widerspruchsprinzip, welches die Verstandeserkenntnis durch abgegrenzte Begriffe normiert, übergeordnet. Sie soll dazu dienen, das Sein und Wesen Gottes, in seiner Verschiedenheit von aller geschöpflichen Einschränkung, und seine Allanwesenheit in jedem Seienden, als Quellgrundjeglicher Seiendheit, zu schauen. Sie hebt das Widerspruchsprinzip nicht auf, begrenzt aber seine Anwendung. In der ‹Apologia doctae ignorantiae› wird die Notwendigkeit der Co. in tieferer theologischer und philosophischer Spekulation behauptet, die peripatetische Beschränkung des Denkens durch das Verbot des Widerspruchs müsse durchbrochen werden [2]. – Die Koinzidenz ist das Prinzip einer überbegrifflich schauenden Erkenntnis dessen, was kein eingrenzbares Objekt, sondern grenzfreier Ursprung, unbedingte Bedingung ist. – Als Handleitung (manuductio) zum Verständnis gebraucht Nikolaus geometrische Beispiele des Zusammenfalls der Gegensätze, anschauliche Hinführungen zu einer übermathematischen Einheit verschiedener Gestalten. Die Schrift ‹De beryllo› bietet dafür (von cap. 25 an) viele Beispiele. Nikolaus geht hier aus von dem Zusammenfall der Gegensätze als Mitte konträrer Gegensätze (der rechte Winkel ist am wenigsten spitz und am wenigsten stumpf). Deutlicher ist das Symbol des Dreiecks, in dessen Winkelsumme der unendliche Winkel, der gleichermaßen der größte wie der kleinste ist, widerstrahlt: Der Winkel von 180° erscheint zugleich als Winkel von 0° [3]. Jedes Dreieck ist ein Widerschein des unendlichen Ursprungs aller Winkel. – Aber alle Handleitungen geben nur eine Analogie für die in der Gotteserkenntnis gemeinte Koinzidenz und sind von dieser strukturell verschieden. Die Unterscheidung ist auch in den frühen Werken von Nikolaus da, aber noch nicht überall durchgeführt [4]. In ‹De coniecturis› [5] sagt Nikolaus, daß er in ‹De docta ignorantia› oft «intellectualiter» von Gott gesprochen habe, durch die Paarung der kontradiktorischen Gegensätze in einfacher Einheit. Doch ohne Vergleich einfacher als ihre Paarung ist die Verneinung der Gegensätze sowohl disjunktiv wie kopulativ; dies ist die eigentlich göttliche Weise «divinaliter». Damit scheint das Koinzidenzprinzip überschritten zu sein. Gott ist jenseits des Zusammenfalls der Gegensätze. Das wird in ‹De visione dei› so ausgesprochen: «Wenn ich dich, Gott, im Paradiese sehe, das diese Mauer des Zusammenfalls der Gegensätze rings umgibt, dann sehe ich, daß du nicht einfaltest, noch ausfaltest, weder disjunktiv, noch kopulativ. Denn die Mauer des Zusammenfalls ist in gleicher Weise Disjunktion und Verbindung. Du bist (exsistis) jenseits dieser Mauer, enthoben (absolutus) allem, was man sagen oder denken kann» [6]. Dennoch heißt es im gleichen Werk: «der Ort, wo du im Zusammenfall (in coincidentia) wohnst» [7], obwohl vorher und nachher der Zusammenfall als trennende Mauer bezeichnet wird, hinter der das Paradies liegt. Die menschlich schauende Vernunft kann nur so weit gelangen, daß sie den Zusammenfall der Gegensätze sieht und erkennt, daß Gott noch darüber erhaben ist. Die Notwendigkeit des Übersteigens der Koinzidenz erscheint darum formal selbst als Koinzidenz: Gott ist als Unendlicher Ende ohne Ende; in der Einheit ist die Andersheit ohne Andersheit; Gott ist Gegensätzlichkeit zu den Gegensätzen, und zwar Gegensätzlichkeit ohne Gegensätzlichkeit; der Widerspruch ist in der Unendlichkeit ohne Widerspruch [8]. Im Non aliud findet Nikolaus die begriffliche Chiffer für das, was er mittels des Koinzidenzprinzips von Gott sagen wollte [9]. Es geht um den intellektualen Weg zur mystischen Schau Gottes: «Gott ist im höchsten Maße Licht, so daß er im geringsten Maße Licht ist» [10]. In diesem Satz klingt die Beziehung zu der überhellen Finsternis, von der die Mystik spricht, an. – Die Idee der Koinzidenz ist inspiriert vom Neuplatonismus (Pseudo-Dionysius[11]) und Meister Eckhart, das Wort ‹coincidentia› stammt von Heymeric de Campo[12]. – Das formale Prinzip der Coincidentia hat einen weiteren Bereich, der auch bei mathematischen und dynamischen Prinzipien fruchtbar wird; dort steht sie der Complicatio nahe. – Bei Nikolaus meint die Koinzidenz nicht den Zusammenfall von ursprünglich existierenden gegensätzlichen Prinzipien, sie überbrückt nicht eine dualistische Spaltung. Als Erkenntnismittel entspricht sie der übervernünftigen Einheit über den Gegensätzen, welcher stets ein Gegensatzglied begrifflich näher steht als das andere. Bei metaphysischer Aussage hat das Maximum den Vorrang und das Minimum dient seiner Qualifikation als Absolutum, das aller Vergleichbarkeit entrückt ist: Das absolute Maximum steht in keinerlei Verhältnis zu relativen Größen und wird darum nicht als deren Gipfel, sondern als ihre Negation gesehen [13]. In der mathematischen Spekulation hat dagegen die Einheit als Minimum das methodische Prius [14]. – «Gut und Böse» stehen nicht in einer übergegensätzlichen Einheit, denn Vergänglichkeit und Sündigen sind kontingente, mitfolgende Mängel oder Privationen des auf dies oder jenes eingeschränkt (contracte) Existierenden als solchen [15]. Sie sind also nicht ontologisch konstitutiv und können deshalb nicht als Koinzidenzglieder gedacht werden. – Im 16. Jh. ändert sich diese Auffassung und damit auch die Interpretation der Koinzidenz, aber ohne Reflexion auf diese Veränderung.
[1]
De docta ignorantia, Widmungsschreiben, h 163.
[2]
h 6, 7–12.
[3]
De beryllo cap. 33. h 43.
[4]
Vgl. jedoch Predigt ‹Dies sanctificatus› 12, 8–28 und De docta ignorantia I, 4. h 10, 25; I, 19. h 38, 24.
[5]
De coniecturis I. h n. 24.
[6]
De visione dei, cap. 11, Ende.
[7]
a.a.O. cap. 10.
[8]
cap. 13. p. fol. 105 verso.
[9]
Directio speculantis cap. 4. h 9, 7–12.
[10]
De docta ignorantia 1, 4. h 11. 7.
[11]
Vgl. Pseudo-Dionys, De divinis nominibus VII, 3.
[12]
R. Haubst: Zum Fortleben Alberts des Großen bei Heymerich von Kamp und Nikolaus von Kues. Beiträge zur Gesch. der Philos. des MA Suppl. 4 (1952).
[13]
G. von Bredow: Die Bedeutung des Minimum in der C.o. Ref. auf dem int. Cusanus-Kongreß in Brixen (1964).
[14]
J. E. Hofmann: Die math. Schriften des N. von Cues (1952) Einl. XVIIIf.
[15]
Nikolaus, De docta ignorantia II, 2. h 65, 17–66, 6; De ludo globi II. h n. 81.
D. Mahnke: Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt (1937). –K. H. Volkmann-Schluck: Nicolaus Cusanus (1957). –K. Jaspers: Nikolaus Cusanus (1964). – Cusanusbibliogr. in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Ges. 1 (1961); 3 (1963); 6 (1967).