Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Doxa

Doxa 738 10.24894/HWPh.738 Alfred Stückelberger
Antike Philosophie Erkenntnistheorie Ruhm Ruf2 288 noesis (νόησις)2 288 dogma (δόγμα)2 288 kabod Herrlichkeit Gottes2 288 Glanz, göttlicher2 288 doxa (δόξα)
Doxa (δóξα, aus δοκέω, scheinen [1]) bedeutet ursprünglich ‹Meinung›, ‹Erwartung›, ‹Vermutung›, so an den zwei ältesten Belegstellen bei Homer[2]. In der folgenden Entwicklung teilen sich die Bedeutungen des Begriffes in eine vor allem im philosophischen Bereich zur Geltung gekommene subjektive Verwendung «die Meinung, die ich habe» (opinio) und eine mehr literarische und umgangssprachliche objektive «die Meinung, die man über mich hat» (gloria).
1. Im philosophischen Bereich bezeichnet ‹D.› eine meist auf sinnlicher Wahrnehmung beruhende subjektive Meinung, Vorstellung oder Ansicht und drückt – je nach der erkenntniskritischen Haltung des betreffenden Denkers – alle Zwischenstufen von «trügerische Scheinmeinung» bis zu «allgemeingültige Anschauung» aus. So erscheint bei Parmenides, der als erster die ganze sinnlich wahrnehmbare Welt in Frage stellt, D. in ausgesprochen negativer Bedeutung: die ßροτῶν δóξαι[3], das heißt die «menschlichen Wahn- und Trugvorstellungen» von der Sinnen weit, stehen im Gegensatz zur ἀλήθεια (Wahrheit), der sich allein auf das ὄν, das eigentliche Sein, beziehenden, offenbarten Erkenntnis [4]. Abgesehen von der negativen Färbung steht dem parmenideischen der D.-Begriff Platons nahe, wie er im ‹Theaitet› entwickelt und in der ‹Politeia› voll ausgebildet wird (abgesehen sei hier von der recht verschiedenartigen und nuancierten Verwendung von ‹D.› besonders in den Frühdialogen [5]): Die ὀρθὴ δóξα (richtige Meinung) – folgert Sokrates – entspricht nicht, wie angenommen, der ἐπιστήμη (Wissen) [6], ein negatives Ergebnis, dem an den entscheidenden Stellen der ‹Politeia› eine positive Deutung gegenübersteht: Die D. ist innerhalb der Stufen der Erkenntnis die auf die Welt der Erscheinungen (ὁρατὸς τóπος) bezogene, somit nur relativ gültige «Wahrnehmungsmeinung», während νóησις die dem eigentlichen Sein (τὸ ὄν/νοητὸς τóπος) zugeordnete Erkenntnis bezeichnet [7]. – Dort, wo an der Gültigkeit der Sinnenwelt kein grundsätzlicher Zweifel mehr geübt wird, tritt auch der erkenntniskritische Gehalt von D. zurück. So kann Aristoteles die D. neben andern Erkenntnisarten aufzählen [8], kann sie als «Schein» im Gegensatz zur Wahrheit gebrauchen [9], ebensogut wie er von κοιναὶ δóξαι, «allgemein anerkannten Ansichten» spricht [10]. In der Folge übernimmt daher ‹D.› die Bedeutung «Ansicht/Lehrmeinung» und rückt in die Nähe von δóγμα (Lehrsatz): Theophrast hat ein Werk über die ‹Lehren der Physiker›, die Φυσικῶν δóξαι, geschrieben, und Epikurs Zusammenstellung der ‹Hauptlehrsätze› nennt sich Κύριαι δóξαι.
2. Demgegenüber steht die in literarischen und umgangssprachlichen Texten geläufige Verwendung von ‹D.› für «Meinung, die man über mich hat», an der ältesten Stelle bei Solon (1, 4) zunächst in der Bedeutung von ‹Ruf›, dann aber allgemein im Sinne von ‹Ruhm, Ehre› [11] (vgl. εὐδοξία, ἔνδοξος).
3. Neben diesen zwei im klassischen Griechisch geläufigen Bedeutungsgruppen von ‹D.› kommt im Hellenismus eine neue auf, welche in keiner Beziehung zu den ursprünglichen steht: ‹D.› ist vom Übersetzer des Alten Testamentes für das hebräische Wort ‹kabod› gebraucht worden und übernimmt so in der lxx die Bedeutung von «göttliche Majestät, Glanz, Herrlichkeit» (claritas in der Vulgata) und drückt die vor allem lichthafte Manifestation Gottes aus. Diese Verwendung, die noch bei Philo und Josephus ganz im Hintergrundsteht, hat im Neuen Testament die gemeinhin griechischen Bedeutungen fast ganz verdrängt und darüber hinaus in der frühchristlichen Literatur und auch in nichtchristlichen Texten (Zauberpapyri [12]) Verbreitung gefunden.
[1]
Nach M. Leumann: Homerische Wörter (1950) 173/178 aus dem Aoristpart. parà ‹tò› dòxan.
[2]
Ilias X, 324; Od. XI, 344: beides jüngere Homerpartien.
[3]
Parmenides, Frg. 1, 30; vgl. 8, 51; 19, 1.
[4]
Vgl. Heraklit, Frg. B 28; Empedokles, Frg. B 132; Gorgias, Frg. B 11 a, 24.
[5]
Vgl. J. Sprute (Lit. 1962).
[6]
Platon, Theaitet 210 a.
[7]
Resp. VII, 533 e; VI, 511 d.
[8]
Aristoteles, Met. 1074 b 35.
[9]
Anal. 46 a 8.
[10]
Etwa Phys. I, 4, 187 a 27f.; 4, 6, 213 a 21f.
[11]
Etwa Aisch. Eum. 373; Herod. V, 91.
[12]
Vgl. J. Schneider (Lit. 1932) 23ff.
K. Schirlitz: Der Begriff der D. in Platons Theaitetos (1905). – J. Schneider: D., eine bedeutungsgesch. Studie (1932). – G. Kittel: Art. ‹D.› in: Theol. Wb. zum NT 2 (1935) 236/258; Forsch. und Fortschritte 7 (1931) 457f. J. Sprute: Der Begriff D. in der platonischen Philos. Hypomnemata 2 (1962). – E. Tielsch: Die Platonischen Versionen der griech. D.-Lehre (1970).