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Exoterisch/esoterisch

Exoterisch/esoterisch 1014 10.24894/HWPh.1014 Konrad Gaiser
Antike Philosophie Unterricht und Institutionen esoterisch populär exoterikos (ἐξωτερικός) esoterikos (ἐσωτερικός)
Exoterisch/esoterisch bedeutet öffentlich/nicht-öffentlich oder populär/fachlich, nach den griechischen Adjektiven ἐξωτερικóς und ἐσωτερικóς (zu adverbial ἔξω und ἔσω: außen und innen). Als exoterisch bezeichnet man heute allgemein Lehren und Schriften, die für ein breiteres Publikum, als esoterisch dagegen solche, die nur für einen engeren Kreis von Eingeweihten bestimmt sind. In der neueren Philosophie wie in der modernen Wissenschaft ist dieser Unterschied meist nebensächlich; in der Geschichte der antiken Philosophie und ihrer Interpretation spielt er jedoch eine erhebliche Rolle.
Der Begriff ‹exoterisch› begegnet terminologisch zuerst bei Aristoteles, der dabei möglicherweise einem platonischen Sprachgebrauch folgt. An 8 Stellen in seinen Lehrschriften verweist er auf ἐξωτερικοί λóγοι[1]. In der Forschung ist seit jeher kontrovers, was mit diesen ‹äußerlichen› oder ‹von außerhalb stammenden› oder ‹nach außen hin gerichteten› Darlegungen gemeint war. Am nächsten lag der Gedanke an die literarischen Werke des Aristoteles im Unterschied zu den Lehrvorträgen der Schule [2]. Neuerdings kommt jedoch mehr die andere Ansicht auf, nach der Aristoteles schulmäßige Argumentationen propädeutischer oder rhetorischer Art als exoterisch bezeichnet hat [3]. Diese Erklärung dürfte im wesentlichen richtig sein; sie paßt zu allen 8 Zitatstellen. Im ganzen finden wir also bei Aristoteles drei Hauptbereiche der philosophischen Wirksamkeit, die sich zweifellos schon in der Akademie unter Platon herausgebildet haben: 1. literarisch publizierte Werke (Dialoge), 2. ‹exoterische› Schulveranstaltungen, d.h. propädeutische Übungen oder allgemein zugängliche Unterrichtskurse für vorwiegend rhetorisch-politisch interessierte Schüler, 3. streng wissenschaftlich-philosophische Vorträge und Diskussionen für die Schulmitglieder selbst.
Vom ursprünglichen, aristotelischen Gebrauch des Wortes aus ist es also nicht gerechtfertigt, wenn heute die literarischen Werke als solche exoterisch genannt werden. Diese Anwendung von ‹exoterisch› findet sich zuerst bei Cicero, der sie wohl von einem seiner griechischen Lehrer (Antiochos von Askalon?) übernommen hat [4]. Der Bedeutungswandel ist damit zu erklären, daß die primär mündlichen ἐξωτερικοὶ λóγοι des Aristoteles kaum mehr greifbar waren und daß nun gegenüber den neu wichtig genommenen Schulvorträgen (Pragmatien) die literarischen Dialoge abgewertet werden sollten. Als Gegenbegriff wurde danach erst die Bezeichnung ‹esoterisch› für die streng schulmäßige Philosophie geprägt: die frühesten Belege finden sich bei Lukian und Galen (2. Jh. n.Chr.). Die so vorgenommene Unterscheidung konnte mit dem in der pythagoreischen Tradition verwurzelten Gedanken an eine bewußte Geheimhaltung bestimmter Lehren verquickt werden. In unhistorischer Weise wurde dieses Motiv vor allem auch der mündlichen Philosophie Platons unterstellt.
In der neueren Platondeutung suchte F. Schleiermacher[5] das Verhältnis von exoterisch und esoterisch mehr methodisch-funktional zu erklären. Hegel hat dies so formuliert: «Das Esoterische ist das Spekulative, das geschrieben und gedruckt ist, und doch ein Verborgenes bleibt für die, die nicht das Interesse haben, sich anzustrengen. Ein Geheimnis ist es nicht, und doch verborgen» [6]. Dies trifft auf Platon insofern zu, als seine Dialoge weit mehr als bloß populäre Protreptik enthalten und mit seinem schulmäßigen Philosophieren unauflösbar zusammenhängen. Andererseits ist zuverlässig bezeugt, daß Platon Grundsätzliches (besonders seine Prinzipientheorie) nur mündlich erörtert hat. Um Mißverständnisse (wie eine Abwertung des Schriftwerks oder den Gedanken an eine Geheimlehre) fernzuhalten, gebraucht man hier besser das Begriffspaar ‹literarisch/nicht-literarisch› (entsprechend der aristotelischen Unterscheidung ‹geschrieben/nicht-geschrieben›).
[1]
Aristoteles, Eth. Nic. 113, 1102 a 26; VI 4, 1140 a 3; Eth. Eud. II 1, 1218 b 34; Polit. III 6, 1278 b 31; VII 1, 1323 a 22; Eth. Eud. I 8, 1217 b 22; Met. XIII 1, 1076 a 28; Phys. IV 10, 217 b 30; dazu ferner Polit. I 5, 1254 a 33 und Eudemos bei Simplikios, Komm. z. Phys., hg. Diels 85/86.
[2]
So bes. J. Bernays: Die Dialoge des Aristoteles (1863); W. Jaeger: Aristoteles (1923) 257–270. 290/91.
[3]
W. Wieland: Aristoteles als Rhetoriker und die exoterischen Schriften. Hermes 86 (1958) 323–346; F. Dirlmeier: Exoterikoi logoi, in: Naturphilos. bei Aristoteles und Theophrast, Verh. 4. Symp. Arist. in Göteborg (1969).
[4]
Cicero, De fin. V 5, 12; Ad Att. IV 16, 2; später ebenso die Aristoteleskommentatoren Ammonios, Simplikios u.a.; die ursprüngliche Bedeutung (exoterisch = schulmäßige Übungen) scheint jedoch Andronikos von Rhodos (1. Jh. v.Chr.) beibehalten zu haben; vgl. Gellius XX 5.
[5]
Platons Werke, dtsch. F. Schleiermacher (11804) Einl.
[6]
Hegel, Vorl. über die Gesch. der Philos. Werke, hg. Glockner 18 (1928) 238.
I. Düring: Aristotle in the ancient biografical tradition (Göteborg 1957) 426–443. – K. Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre (1963, 21968). – H.-J. Krämer: Die grundsätzlichen Fragen der indirekten Platonüberlieferung, Idee und Zahl. Abh. Heidelberg. Akad. Wiss., phil.-hist. Kl. (1968) 2, 106–150. – F. Schleiermacher und K. F. Hermann jetzt in: Das Platonbild, hg. K. Gaiser (1969). – Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons, hg. J. Wippern, in: Wege der Forsch. 186 (1971).