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Geltungsstreben

Geltungsstreben 1234 10.24894/HWPh.1234 Oliver Brachfeld
Psychologie Überlegenheitsgefühl
Geltungsstreben (Synonyma und Ausdrücke für Steigerungs- und Übersteigerungsformen: Geltungstrieb, -drang, -sucht, -bedürfnis; in der Individualpsychologie auch: Streben nach Überlegenheit, Vollkommenheit, Macht, Gottähnlichkeit, Selbstvergötzung). Der Begriff gewinnt zentrale Bedeutung in der IndividualpsychologieA. Adlers: Das G. entsteht als Folge eines Minderwertigkeitsgefühls, das in der menschlichen Natur wurzelt. Es ist Ausdruck des Bestrebens, das Minderwertigkeitsgefühl, d.h. die Beeinträchtigung des Selbstwerterlebens, durch den Erwerb von Ansehen in der sozialen Umwelt zu überwinden [1]. In seinen ersten Schriften gebraucht Adler für ‹G.› noch Nietzsches Ausdruck ‹Wille zur Macht› [2] und hält diesen Willen für ein Zeichen des menschlichen «Aggressionstriebes» [3]. Je mehr Adler sich jedoch von organismischen Vorstellungen löst und sich auf eine rein psychologische Deutung psychischer Phänomene konzentriert, um so seltener verwendet er die Begriffe ‹Wille zur Macht› und ‹Aggressionstrieb› und gebraucht stattdessen den Ausdruck ‹Geltungstrieb[4]. Sein Interesse an pathologischen Entwicklungen des psychischen Systems bringt es mit sich, daß er sich vor allem mit Steigerungsformen des G. beschäftigt; er führt dafür Termini wie ‹Überlegenheitsstreben› [5], ‹Vollkommenheitsstreben› [6], ‹Gottähnlichkeitsstreben› [7], ‹männlicher Protest› [8] ein. Dem Begriff ‹männlicher Protest› kommt besondere Bedeutung zu. Noch unter dem Einfluß der fast ausschließlich sexuellen Interpretation psychischen Geschehens im Wiener psychoanalytischen Kreis und unter dem Einfluß anderer zeitgenössischer Auffassungen neigt Adler in den ersten Jahren der Entwicklung seiner Individualpsychologie dazu, das Minderwertigkeitsgefühl und dessen Kompensation durch G. auf die Geschlechtsrolle zu beziehen: Sich-minderwertig-fühlen heißt für ihn «weiblich» sein, «unten» sein; sich überlegen fühlen «männlich» sein, «oben» sein. Ein Überlegenheitsstreben oder G. stellt demnach einen Wunsch nach der männlichen Geschlechtsrolle dar [9]. Diese Deutung des G. tritt später zugunsten einer sozialen und einer individuell-teleologischen Interpretation zurück. Beide Deutungsweisen bleiben aber gleichwertig und unvermittelt nebeneinander stehen und finden ihren Ausdruck in der Verwendung der Begriffe ‹G.› und ‹Überlegenheitsstreben› einerseits und ‹Streben nach Vollkommenheit› bzw. ‹Gottähnlichkeit› andererseits [10].
In der Nachfolge Adlers bleibt nur dessen spätere Konzeption des Begriffes erhalten. F. Birnbaum modifiziert sie, indem er die von Adler hypostasierte Ursache-Wirkung-Folge: Minderwertigkeitsgefühl G. (bei Birnbaum auch ‹Selbstvergötterung›) für umkehrbar erklärt. Die Intensität des Minderwertigkeitsgefühls kann von der des G. abhängen [11]. – Bei F. Künkel finden sich ähnliche Gedanken: Minderwertigkeitsgefühl und G. sind einander in ihrer Stärke direkt proportional. Die Spannung zwischen diesen beiden Komponenten bezeichnet er als ‹Reizbarkeit› [12]. G. führt zur Ichhaftigkeit unter Vernachlässigung der (positiv bewerteten) Sachlichkeit. – Einer ähnlichen Sicht begegnet man bei dem Persönlichkeitspsychologen W. Arnold[13]. – E. Wexberg faßt in seiner ‹Individualpsychologie› die methodische Funktion der Begriffe ‹G.› und ‹Minderwertigkeitsgefühl› genauer: ‹G.› ist ein phänomendeskriptiver Begriff, der eine «seelische Realität» beschreibt, während ‹Minderwertigkeitsgefühl› bei Adler nach Wexbergs Analyse als Erklärungsbegriff fungiert und einen hypothetischen Zustand bezeichnet [14].
Außerhalb der Individualpsychologie spielt der G.-Begriff in einigen Persönlichkeitslehren eine Rolle, insbesondere in der frühen Charakterologie L. Klages'. Inwieweit eine gegenseitige Anregung stattfand, ist umstritten; Belege H. L. Ansbachers zeigen jedoch, daß Adler die Schriften von Klages kannte, so daß ein Einfluß von Klages auf Adler vermutet werden kann [15]. Klages veröffentlichte seine ‹Grundlagen der Charakterkunde› 1910 [16], also etwa in den gleichen Jahren, in denen Adler seine ersten Gedanken über das G. formulierte. Wie Adler spricht auch Klages zunächst von ‹Geltungstrieb›. Trotz dieser veralteten Begriffsprägung finden sich bei ihm Überlegungen, die neuere psychologische Analysen der Selbsteinschätzung vorwegnehmen [17]. Der allgemeine «Selbsteinschätzungstrieb» beruht auf dem Vergleich mit sozialen Partnern. Erst durch diese soziale Orientierung wird das Streben nach Selbsteinschätzung zu einem «Geltungstrieb» [18]. – Eine ähnlich sozialpsychologisch ausgerichtete Deutung des G. versucht zwei Jahrzehnte später P. Lersch: Das Kind bildet sein Selbstwertgefühl durch das Urteil anderer über seine Person aus; dadurch wird es in seiner Selbstschätzung von anderen abhängig. Dieser. Umstand macht es erklärlich, daß zunächst das G., d.h. das auf die soziale Umwelt gerichtete Selbstwertstreben, gegenüber dem von der sozialen Umwelt unabhängigen Eigenwertstreben vorherrscht [19]. Beide Aspekte des Selbstwertgefühls sollten jedoch beim Erwachsenen gleichmäßig ausgebildet sein. Die G. steigert sich nach Lersch zur Geltungssucht, wenn es ständig frustriert wird [20].
Das G. ist eine normale psychische Erscheinung. Erst durch Übersteigerung wird es zum pathologischen Phänomen und damit zum Gegenstand psychopathologischer Forschung. In seiner grundlegenden Systematisierung der abnormen Charakteranlagen, zu denen auch Geltungsbedürfnis und Geltungssucht zählen, erkennt K. Schneider im geltungsbedürftigen Psychopathen hysterische Züge [21] und gibt als Merkmal des Geltungssüchtigen den Aufbau einer Scheinwelt an, in der er eine seinem G. genügende Rolle spielen kann; diese Scheinwelt wird aufgebaut durch Exzentrizität, Renommiersucht und Pseudologien [22]. – N. Petrilowitschs Analyse abnormer Persönlichkeiten fußt auf der Einteilung Schneiders. Als Wurzeln des G. stellt er zusammen: a) naturgegebene «Machtstrebigkeit», b) naives, mit vitaler Mächtigkeit korrespondierendes G. expansiv-hyperthymischer Persönlichkeiten, c) das kompensatorische G. bei selbstunsicheren, depressiven Persönlichkeiten, deren Selbsteinschätzung und «innerer Halt» von äußerer Anerkennung abhängig ist, d) das durchaus sachlich orientierte, doch alle anderen Gesichtspunkte der Lebensgestaltung hintanstellende Karrierestreben. Petrilowitsch betont, daß die Geltungsbedürftigen keinen einheitlichen Typus bilden, sondern auf vielerlei Weise «erlebnisreaktiv» determiniert sind. Dagegen könne man bei habituell Geltungssüchtigen von einem einheitlichen Typus sprechen [23].
[1]
A. Adler: Über den nervösen Charakter (1912, 31922) 29.
[2]
5. 24.
[3]
Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose (1908); auch in: A. Adler und C. Furtmüller: Heilen und Bilden (31928) 33–42; vgl. auch Art. ‹Aggression› Nr. 2.
[4]
a.a.O. [1] ebda.
[5]
Über den Ursprung des Strebens nach Überlegenheit und des Gemeinschaftsgefühls. Int. Z. Individualpsychol. (= IZI) 11 (1933) 257–263.
[6]
ebda.
[7]
Relig. und Individualpsychol., in: A. Adler und E. Jahn: Relig. und Individualpsychol. (1933) 58–92.
[8]
Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose (1910); auch in: A. Adler und C. Furtmüller, a.a.O. [3] 76–84.
[9]
ebda.; vgl. V. Adler: Bemerk, über die soziol. Grundl. des männl. Protestes. IZI 3 (1925) 307–310.
[10]
Vgl. a.a.O. [5]; Menschenkenntnis (1926); Persönlichkeit als geschlossene Einheit. IZI 10 (1932) 81–88; vgl. a.a.O. [7].
[11]
F. Birnbaum: Inferno, Purgatorio, Paradiso. IZI 17 (1948) 97–108.
[12]
F. Künkel: Einf. in die Charakterkunde (1928).
[13]
W. Arnold: Person, Charakter, Persönlichkeit (31969) 179.
[14]
E. Wexberg: Individualpsychol. (21931) 69.
[15]
H. L. Ansbacher und R. Ansbacher: The Individual Psychol. of Alfred Adler (New York 1956) 220f.
[16]
L. Klages: Die Grundl. der Charakterkunde (11910, 7/81936).
[17]
L. Festinger: A theory of social comparison processes. Human Relations 7 (1954) 117–140.
[18]
Klages, a.a.O. [16] 202.
[19]
P. Lersch: Aufbau der Person (91964).
[20]
a.a.O. 256.
[21]
K. Schneider: Die psychopathischen Persönlichkeiten (61943).
[22]
a.a.O. 85.
[23]
N. Petrilowitsch: Abnorme Persönlichkeiten (1960) 105ff.