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Hedonismus

Hedonismus 1501 10.24894/HWPh.1501 Jürgen Ruhnau
Ethik und Moralphilosophie Schulen, Strömungen und Positionen Hedonik pleasure3 1024 Glückseligkeit3 1025 Musik, hedonistische3 1025
Hedonismus. Die Wortfamilie ‹H.›, ‹Hedonist›, ‹Hedonik› wird im 19. Jh. aus griechisch ἡδονή (Lust) gebildet. Dieses hängt mit ἡδύς, süß, zusammen (sinnliche Qualität). – Seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. wird die These, daß Glück das einzige Ziel menschlicher Praxis sei oder sein solle, zunehmend diskutiert. Dabei wird Glück zu einem empirischen Begriff, der zunächst mit dem der Lust zusammenfällt [1]. Diese Lehre heißt bei Kant ‹Glückseligkeitslehre› oder ‹Eudämonismus›, bei anderen ‹Epikureismus› oder ‹pleasure-› bzw. ‹happiness theory›. Ist nicht das individuelle Glück, sondern «größtes Glück der größten Zahl» gemeint, spricht man von ‹Utilitarismus›.
Der erste Beleg dieser Wortfamilie, ‹Hedonik›, findet sich 1813 bei Schopenhauer[2]. Das Wort ‹hedonism› (hedonist) wird nach 1850 in England zur Bezeichnung der erwähnten Lehre gebräuchlich [3]. Der zentrale Begriff ‹pleasure› hat eine weite Bedeutung («feeling of being happy or satisfied» [4]); ‹hedonism› deckt daher im allgemeinen den ganzen Umfang von ‹Eudämonismus› im angegebenen Sinn; ‹eudæmonism› existiert zwar im Englischen [5], ist aber nicht gebräuchlich [6]. In der deutschsprachigen Literatur dagegen wird ‹H.› wesentlich enger gefaßt und besonders auf momentane, sinnliche Lust bezogen. ‹H.› ermöglicht so eine Differenzierung im Bereich des Begriffs ‹Eudämonismus› und damit eine Unterscheidung beider Begriffe [7]. – Das Wort ‹H.› hat vier Anwendungsbereiche:
1. ‹H.› als Begriff der Philosophiegeschichte[8]. – ‹H.› scheint zuerst die Lehre der Kyrenaiker bezeichnet zu haben, für die Lust (ἡδονή) das höchste Gut (τέλος) war, während Glück (εὐδαιμονία) nur als Summe der einzelnen Lustempfindungen verstanden wurde. Der H. der Kyrenaiker [9] umfaßte so verschiedene Formen wie den H. des Aristipp, der keinen qualitativen Unterschied zwischen den Arten der Lust machte, jedoch die körperliche der seelischen vorzog; den H. des Theodoros, dessen Ideal die heitere Gemütsverfassung war; bis zu dem des Hegesias, der feststellte, daß das Leben unter der hedonistischen Perspektive wertlos sei, weil das Leid die Lust überwiege (hedonistischer Pessimismus). – Epikur sah den seligen Zustand in Schmerzlosigkeit und Freiheit von Leidenschaften, nicht in positiver Lust («negativer H.» nach H. Marcuse [10]). Er unterschied höhere Freuden, die ihrem Wesen nach jenen Zustand sicherer herstellen, von niedrigen und verlangte eine kluge Auswahl unter diesem Aspekt. Platon rechnete mit dem H. als praktischer Haltung der Masse der Menschen [11].
2. Praktischer H. (Hedonik). – Als ‹Hedonik› wird seit Schopenhauer eine Haltung unreflektierter Bereitschaft zum Genuß bezeichnet, die auf jede ethische Rechtfertigung verzichtet. Schopenhauer dachte an die heitere Sinnenfreude, die seine Zeit bei Anakreon und Horaz ausgedrückt fand [12]. Später konnte ‹H.› auch extrem verstanden werden: Der Hedonist nimmt Opium [13], er lebt sich bedenkenlos sexuell aus [14] oder genießt sich in perversen oder regressiven Formen der Sexualität [15]. – Die Kritik des praktischen H. betont entweder, daß das Ziel selbst falsch sei («Genießen macht gemein» [16]), daß der praktische H. oft aus Schwäche, Verzweiflung oder Verkehrtheit geboren sei [17] oder daß er sein Ziel notwendig verfehle (das «Grundparadox des H.» [18]).
3. Psychologischer H. – Die These, Lust sei einziges oder vorrangiges Ziel menschlicher Praxis, heißt ‹psychologischer H.› [19]. Er liegt dem Denken vieler moderner Philosophen zugrunde. Auch die Utilitaristen gehen von diesem Satz aus («Nature has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure» [20]; «happiness is the sole end of human action», wobei «happiness» durch «pleasure and the absence of pain» umschrieben wird [21]). Der Gedanke wird noch 1950 in provozierend extremer Form vertreten [22]. – In der Psychologie wurde ‹H.› Fachausdruck für eine Motivationstheorie [23]; hedonische Verhaltensweisen wurden auch bei Ratten experimentell nachgewiesen [24]. – Gegen den psychologischen H. wird eingewendet, daß eine große Zahl von Aktivitäten durch sachliche Vorstellungen oder Objekte, nicht durch die davon erwartete Lust motiviert ist [25]; daß wir grundsätzlich nur gegenständliche Ziele erstreben können [26]; daß ‹Lust› bzw. ‹pleasure› ein so allgemeines Wort mit kontroversem Inhalt ist, daß dadurch nichts erklärt wird [27].
4. Ethischer H. – Die These des ethischen H. ist, daß Lust bzw. pleasure das einzige oder das höchste Gut ist. Sie wurde in der Neuzeit vor allem in Verbindung mit dem Utilitarismus vertreten. J. Bentham will aus dem Gedanken einer unumschränkten Herrschaft von Lust und Schmerz im Leben des Menschen ein Prinzip nicht nur der Ethik, sondern auch der Gesetzgebung ableiten. Die Durchführung dieses Prinzips muß davon ausgehen, daß es einen Qualitätsunterschied zwischen verschiedenen Arten des Vergnügens nicht gibt («pushpin [ein Geduldspiel] is as good as poetry» [28]). Ein Vergnügen verdient den Vorzug vor einem anderen nur, wenn es ihm quantitativ, z.B. nach Intensität und Dauer, überlegen ist [29]. J. St. Mill dagegen setzt ästhetische und intellektuelle Befriedigung qualitativ höher als sinnliche («It is better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied» [30]). Er will über den H. zum Utilitarismus kommen: Sorge für das eigene Glück soll zur Sorge für das Glück aller Menschen führen. Für H. Sidgwick, der das Wort ‹hedonism› erst eigentlich in die Philosophie eingeführt hat, existiert freilich kein logisch zwingender Weg vom H. zum Utilitarismus. Der H., wie bei Bentham ein H. der Quantität, hat in der Form eines von allzu rohem Egoismus gereinigten Selbstinteresses als praktische Maxime seine Berechtigung. Als Grundlage einer Ethik ist er fragwürdig, da er keine sichere Methode bietet [31].
Dieser Mangel an Notwendigkeit war innerhalb des Bereichs einer Kritik des ethischen H. bereits ein Argument Kants gewesen. Auch für ihn darf eine konsesequente «Glückseligkeitslehre» nur auf Stärke, Dauer usw. des erstrebten Vergnügens sehen. Diese hängen aber von zufälligen Gegebenheiten des jeweiligen Subjekts ab. Eine «Glückseligkeitslehre» ist möglich, sie kann aber keine «Sittenlehre» sein, da ihr Prinzip aus Sinnlichkeit, nicht aus praktischer Vernunft stammt. Jede materiale Ethik wird von Kant als eine solche «Glückseligkeitslehre» abgelehnt [32]. Daß eine qualitative Unterscheidung verschiedener Klassen von Lust (Epikur, J. St. Mill) das Prinzip des H. (bzw. Eudämonismus) aufhebt, zeigen G. E. Moore und N. Hartmann[33]. M. Schelers phänomenologische Analyse ergibt, daß sich jeder Eudämonismus auf den H. reduzieren muß, da sich nur Lustempfindungen der untersten Schicht («sinnliche Gefühle») nach Belieben mit einiger Sicherheit erzeugen lassen, nicht aber «seelische» oder gar «geistige Gefühle» wie Seligkeit oder Verzweiflung. Der H. verfehlt also die volle Realität des Menschen [34]. H. Marcuse kritisiert, daß der H., indem er das Glück einseitig in die Sinnlichkeit verlagert, einen vollen Begriff von Glück preisgibt, der ohne Bezug auf Erkenntnis und Wahrheit nicht zu denken ist. Das hedonische Individuum versöhnt sich durch sein partielles und verkümmertes Glück, das es aus der Befriedigung seiner falschen Bedürfnisse zieht, mit dem allgemeinen Unglück einer antagonistischen Gesellschaft [35]. In ähnlicher Weise kritisiert Th. W. Adorno, daß «hedonistische Musik», Schlager und Unterhaltungsmusik, zu ideologischer Verführung und Verschleierung der Realität in gewährtem falschem Genuß dient [36].
Oft wird dem H. aber auch eine relative Wahrheit zugestanden. Es wird betont, daß Lust ein Wert ist [37]. Ein H., der das Individuum auf seine Lust verweist, ist nach H. Marcuse als Gegenpol gegen Lehren der Verinnerlichung, moralischen Rigorismus und eine Vernunftphilosophie, die das Individuum opfert, im Recht. P. Gorsen billigt der falschen subjektiven Glückseligkeit des pathologischen Hedonisten eine gewisse revolutionäre Potenz zu [38]. In der englischen Tradition steht J. C. B. Gosling, der pleasure als wesentlichen Bestandteil jeder freien Handlung ansieht [39].
[1]
I. Kant, KpV § 3 Anm. 1.
[2]
A. Schopenhauer, Werke, hg. P. Deussen 11, 62; vgl. 26.
[3]
A new Engl. dictionary on hist. principles, hg. James/Murray 5, 190 s.v.
[4]
The advanced learner's dict. of current Engl. (Oxford 21963); vgl. die phänomenale Beschreibung von pleasure in: J. St. Mill: Utilitarianism. Introd. A. D. Lindsay (London 1910); H. Sidgwick: Methods of ethics (London 1875, dtsch. 1909); J. C. B. Gosling: Pleasure and desire. The case for hedonism reviewed (Oxford 1969); Encyclop. of philos. (New York 1967) 3, 432.
[5]
Lindsay bei Mill, a.a.O. XII.
[6]
Ein Art. ‹Eudaemonism› fehlt z.B. in Encyclop .... a.a.O. [4].
[7]
G. Simmel: Einl. in die Moralwiss. 1 (1892/93) 298. 299. 306; M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik ... (1916, 41954) 341; N. Hartmann: Ethik (1925, 31949) 83. 93; H. Marcuse: Zur Kritik des H. Z. Sozialforsch. (1938); jetzt in: Kultur und Gesellschaft 1, 130; P. Gorsen: Das Bild Pygmalions (1969) 9. 17.
[8]
z.B. W. Windelband: Gesch. der Philos. (41907) 69ff.
[9]
Diogenes Laertius II, 66ff.
[10]
Marcuse, a.a.O. [7] 138.
[11]
H.-D. Voigtländer: Die Lust und das Gute bei Platon (1960).
[12]
Schopenhauer, a.a.O. [2].
[13]
New Engl. dict. a.a.O. [3] s.v. ‹hedonist›.
[14]
W. Lippmann: Der neue H., in: Die sittl. Lebensform des modernen Menschen (dtsch. 1930).
[15]
Gorsen, a.a.O. [7].
[16]
J. W. Goethe, Faust II, 10259; Fr. Nietzsche, Die Unschuld des Werdens II, Nr. 804.
[17]
Fr. Nietzsche, Der Wille zur Macht Nr. 781; Scheler, a.a.O. [7] 357.
[18]
Sidgwick, a.a.O. [4] 1, 57f.; 2, 279f.; Windelband, a.a.O. [8] 71; Hartmann, a.a.O. [7] 95f.; Lippmann, a.a.O. [14].
[19]
Sidgwick, a.a.O. [4] IV; H. Gomperz: Kritik des H. (1898); G. E. Moore: Principia ethica (London 1903, dtsch. 1970) § 42.
[20]
J. Bentham: An introd. to the principles of morals and legislation (1780ff.) Kap. 1.
[21]
Mill, a.a.O. [4] 36.
[22]
W. H. Sheldon: The absolute truth of H. J. Philos. (1950) 285ff.
[23]
H. Thomae (Hg.): Theorien der Motivation (1965).
[24]
P. T. Young: The role of hedonic processes in the organisation of behavior. Psychol. Rev. 59 (1952) 249–262; 73 (1966) 59–86.
[25]
z.B. Sidgwick, a.a.O. [4] 1, 61.
[26]
Scheler, a.a.O. [7] 57; Hartmann, a.a.O. [7] 81; Marcuse, a.a.O. [7] 165.
[27]
Simmel, a.a.O. [7] 311; Moore, a.a.O. [19] § 40; Gosling, a.a.O. [4].
[28]
zit. Sidgwick, a.a.O. [4] 1, 107; Moore, a.a.O. [19] 124.
[29]
Bentham, a.a.O. [20] Kap. 4.
[30]
Mill, a.a.O. [4] 9.
[31]
Sidgwick, a.a.O. [4] 2, 275f.; 1, 222; Bd. 1, Buch 2, Kap. 3–6.
[32]
Kant, KpV § 3; vgl. Scheler, a.a.O. [7] 254ff.
[33]
Moore, a.a.O. [19] § 47; Hartmann, a.a.O. [7] 82. 91.
[34]
Scheler, a.a.O. [7] 349ff.
[35]
Marcuse, a.a.O. [7].
[36]
Th. W. Adorno: Einl. in die Musiksoziol. (1968) 70.
[37]
Kant, KpV. Akad.-A. 5, 93f.; Simmel, a.a.O. [7] 311; Hartmann, a.a.O. [7] 93.
[38]
Gorsen, a.a.O. [7].
[39]
Gosling, a.a.O. [4].