Lasterkatalog. Die Aufreihung sittlicher Eigenschaften in Sündenregistern, Beichtspiegeln oder L. ist so naheliegend, daß sie ohne gemeinsamen Ursprung oder einheitliche Ordnung vielerorts begegnet. Sie kommt aus der Lust am einfachen Aufzählen, dem Willen zu rechtlicher und ethischer Unterweisung oder dem Bedürfnis nach systematischer Ordnung. A. Deissmann verweist z.B. auf Astrologen wie Vettius Valens oder auf die volkstümlichen Schimpfwörter antiker Spielmarken und der Komödie
[1]; R. Reitzenstein sieht in den systematischen Reihen von fünf, sieben und zwölf Lastern ursprünglich kosmisch-materielle Elemente der Planeten oder Tierkreiszeichen, die im Zuge einer «wachsenden Ethisierung der vorderasiatischen Religionen» umgedeutet worden sind
[2].
In der hellenistisch-römischen Philosophie wird der L. literarische Form. Die
Stoa baut ihn mit Hilfe von zwei Viererreihen aus. Im Gegensatz zu den vier Kardinaltugenden stehen
ἀφροσύνη (Unbesonnenheit),
ἀκολασία (Zügellosigkeit),
ἀδικία (Ungerechtigkeit),
δειλία (Feigheit), die z.B.
Diogenes Laertios aufzählt und die als grundlegende Übel gelten
[3]. Seit
Zenon schon kommen hinzu die vier Hauptaffekte
ἐπιθυμία (Begierde),
φόβος (Furcht),
λύπη (Trauer),
ἡδονή (Lust)
[4]. Dieses Grundgerüst wird durch weitere Unterarten zu einem ausführlichen L. ausgefaltet, der trotz einzelner Abweichungen in den Listen des Diogenes Laertios,
Andronikos oder
Cicero den gleichen Kernbestand aufweist
[5] und in der Schultradition auch der späteren Stoa von Männern wie
Seneca, Epiktet u.a. weitergegeben wird.
Er wird von der
Popularphilosophie der Zeit übernommen und in ihre sittliche Diatribe als wirksames didaktisches wie rhetorisches Mittel eingebaut. Charakteristisch ist dabei die lockere Reihung wie Häufung der Begriffe und die Übernahme volkstümlicher Wendungen des Alltags. Quellen sind u.a. die Kynikerbriefe der Kaiserzeit, die Briefe
Heraklits, Vorträge des
Musonius, Dialoge und Ansprachen des
Dion Chrysostomus.
Anders als das Alte Testament kennt auch das
spätjüdische Schrifttum die Form des L. In der Literatur der Diaspora (
Philon, Weisheit
Salomos, IV. Makkabäerbuch
[5a]) findet sich neben den Sünden des Dekalogs deutlich der Einfluß hellenistischer Popularphilosophie; die vier Kardinallaster tauchen ebenso auf wie die Bekämpfung der Affekte. In der übrigen Paränese des palästinensischen Spätjudentums (den Büchern der Jubiläen,
Henochs, dem Testament der XII Patriarchen) sind die auch dort vorhandenen L. von der Tradition des Alten Testaments und vor allem vom Schema der zwei Wege geprägt. S. Wibbing hat das Schema mit seinen dualistischen Grundbegriffen (Licht – Finsternis, Geist der Wahrheit – des Frevels) aus den Quumranschriften (vor allem QS 4, 2–14) endgültig aufgewiesen.
Die verschiedenen Traditionen beeinflussen auch die häufigen, größtenteils in den Briefen enthaltenen L. des
Neuen Testaments[6]. Ihre meist asyndetischen Aufzählungen
sind von der Stilform hellenistischer Diatribe bestimmt, bleiben aber in Begriffen und nach Intention durchaus selbständig. So findet sich z.B. auch eine Einteilung nach den Grundrichtungen des Strebens (Genuß, Macht, Besitz) in Augenlust, Fleischeslust und Hoffart des Lebens
[7]. Stimmen auch gut ein Drittel der gebrauchten Bezeichnungen mit popularphilosophischen L. überein: mehr noch weisen auf jüdische Tradition oder entstammen der missionarischen Absicht wie der konkreten Gemeindesituation. Vor allem wird das verschiedene Ideal der Sittlichkeit (
ἀπάθεια, Gelassenheit, Affektlosigkeit –
ἀγάπη, Liebe) in der Bewertung oder Auslassung einzelner Grundbegriffe deutlich. Ebenso knüpft das Neue Testament gern an das spätjüdische dualistische Denkschema der zwei Wege an und versteht den Menschen als unter die bestimmende Gewalt zweier gegensätzlicher Mächte gestellt
[8].
Über
Philon, der nicht nur die beiden Quarternare der Stoa häufig zitiert, sondern zu einem festen Schema von acht Lastern verbindet und allegorisch nach Deut. 7, 1 (sieben feindliche Völker Kanaans und der Hauptfeind Ägypten) deutet
[9], gelangt der L. in dieser fixierten Sonderform zu den
Kirchenvätern. Der
Ἀντιρρητικός (Gegenschrift) des
Euagrios Pontikos[10] und die ‹Conlationes› des
Johannes Cassianus[11] sind die ersten literarischen Zeugen der in der mündlichen Tradition des Mönchtums bewahrten Achtlasterlehre. Aus dieser Quelle hat sie vor allem
Gregor der
Grosse empfangen und der späteren Theologie vermittelt. Er hat dabei die sonst, z.B. in Bußbüchern des 7. bis 10. Jh., noch beibehaltene Achtzahl um der Zahlensymbolik und Allegorese willen geändert. Die Hoffart (superbia) ist ihm Wurzel und Mutter, die anderen sieben Laster die Töchter, von deren jeder wieder sieben andere Laster abgeleitet werden
[12]. Schließlich ist die sogenannte Saligia-Reihe der sieben Hauptsünden mit dem Merkvers «dat septem vicia dictio saligia» entstanden, so genannt nach den sieben Anfangsbuchstaben: superbia (Hoffart, Hochmut, Stolz), acedia (Unlust, Trägheit), luxuria (Begehrlichkeit, Vergnügungssucht), ira (Zorn), gula (Genußsucht), invidia (Neid), avaritia (Geiz). Von
Petrus Lombardus und
Hugo von St. Viktor bis zu
Thomas von Aquin und
Johannes Gerson, die sich alle auf Gregor berufen, werden diese sieben Laster im
Mittelalter als die «Quellen aller Verderbnisse der Seelen» genannt
[13]. Die Reihe ist, nach den wichtigsten Zielen menschlichen Begehrens geordnet und als Wurzelsünden verstanden, in die Volksliteratur eingegangen.
Luther gebraucht sie noch in den früheren Schriften
[14]. Für die katholischen Katechismen der
Neuzeit ist wohl der des
Petrus Canisius zur Übernahme der Formel Vorbild gewesen. In eigenständiger Weise hat
Kant, ausgehend von den ursprünglichen Anlagen der menschlichen Natur, eine Einteilung unternommen. Die «Anlage für die Tierheit» kann zu den «Lastern der Rohigkeit der Natur», den «viehischen Lastern der Völlerei, der Wollust und der wilden Gesetzlosigkeit» entarten, die «Anlagen für die Menschheit» können zu den «Lastern der Kultur», den sogenannten «teuflischen Lastern» wie Neid, Undankbarkeit, Schadenfreude, Nebenbuhlerei usw. führen, während allein auf die «Anlage der Persönlichkeit», «die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz» «schlechterdings nichts Böses gepfropft werden kann»
[15].