Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Lasterkatalog

Lasterkatalog 2170 10.24894/HWPh.2170 Richard Hauser
Ethik und Moralphilosophie aphrosyne (ἀφροσύνη) Unbesonnenheit5 37 akolasia (ἀκολασία)5 37 Zügellosigkeit5 37 adikia (ἀδικία)5 37 Ungerechtigkeit5 37 deilia (δειλία)5 37 Feigheit5 37 epithymia (ἐπιθυμία)5 37 Begierde5 37 phobos (φόβος)5 37 Furcht5 37 lype (λύπη)5 37 Trauer5 37 hedone (ἡδονή)5 37 Lust5 37 superbia5 38 Hochmut5 38 Stolz5 38 acedia5 38 Trägheiteth. 5 38 luxuria5 38 Vergnügungssucht5 38 gula5 38 Neid5 38 Anlage5 38 Rohheit5 38 Tafel der Laster Dankbarkeit5 38
Lasterkatalog. Die Aufreihung sittlicher Eigenschaften in Sündenregistern, Beichtspiegeln oder L. ist so naheliegend, daß sie ohne gemeinsamen Ursprung oder einheitliche Ordnung vielerorts begegnet. Sie kommt aus der Lust am einfachen Aufzählen, dem Willen zu rechtlicher und ethischer Unterweisung oder dem Bedürfnis nach systematischer Ordnung. A. Deissmann verweist z.B. auf Astrologen wie Vettius Valens oder auf die volkstümlichen Schimpfwörter antiker Spielmarken und der Komödie [1]; R. Reitzenstein sieht in den systematischen Reihen von fünf, sieben und zwölf Lastern ursprünglich kosmisch-materielle Elemente der Planeten oder Tierkreiszeichen, die im Zuge einer «wachsenden Ethisierung der vorderasiatischen Religionen» umgedeutet worden sind [2].
In der hellenistisch-römischen Philosophie wird der L. literarische Form. Die Stoa baut ihn mit Hilfe von zwei Viererreihen aus. Im Gegensatz zu den vier Kardinaltugenden stehen ἀφροσύνη (Unbesonnenheit), ἀκολασία (Zügellosigkeit), ἀδικία (Ungerechtigkeit), δειλία (Feigheit), die z.B. Diogenes Laertios aufzählt und die als grundlegende Übel gelten [3]. Seit Zenon schon kommen hinzu die vier Hauptaffekte ἐπιθυμία (Begierde), φόβος (Furcht), λύπη (Trauer), ἡδονή (Lust) [4]. Dieses Grundgerüst wird durch weitere Unterarten zu einem ausführlichen L. ausgefaltet, der trotz einzelner Abweichungen in den Listen des Diogenes Laertios, Andronikos oder Cicero den gleichen Kernbestand aufweist [5] und in der Schultradition auch der späteren Stoa von Männern wie Seneca, Epiktet u.a. weitergegeben wird.
Er wird von der Popularphilosophie der Zeit übernommen und in ihre sittliche Diatribe als wirksames didaktisches wie rhetorisches Mittel eingebaut. Charakteristisch ist dabei die lockere Reihung wie Häufung der Begriffe und die Übernahme volkstümlicher Wendungen des Alltags. Quellen sind u.a. die Kynikerbriefe der Kaiserzeit, die Briefe Heraklits, Vorträge des Musonius, Dialoge und Ansprachen des Dion Chrysostomus.
Anders als das Alte Testament kennt auch das spätjüdische Schrifttum die Form des L. In der Literatur der Diaspora (Philon, Weisheit Salomos, IV. Makkabäerbuch [5a]) findet sich neben den Sünden des Dekalogs deutlich der Einfluß hellenistischer Popularphilosophie; die vier Kardinallaster tauchen ebenso auf wie die Bekämpfung der Affekte. In der übrigen Paränese des palästinensischen Spätjudentums (den Büchern der Jubiläen, Henochs, dem Testament der XII Patriarchen) sind die auch dort vorhandenen L. von der Tradition des Alten Testaments und vor allem vom Schema der zwei Wege geprägt. S. Wibbing hat das Schema mit seinen dualistischen Grundbegriffen (Licht – Finsternis, Geist der Wahrheit – des Frevels) aus den Quumranschriften (vor allem QS 4, 2–14) endgültig aufgewiesen.
Die verschiedenen Traditionen beeinflussen auch die häufigen, größtenteils in den Briefen enthaltenen L. des Neuen Testaments[6]. Ihre meist asyndetischen Aufzählungen sind von der Stilform hellenistischer Diatribe bestimmt, bleiben aber in Begriffen und nach Intention durchaus selbständig. So findet sich z.B. auch eine Einteilung nach den Grundrichtungen des Strebens (Genuß, Macht, Besitz) in Augenlust, Fleischeslust und Hoffart des Lebens [7]. Stimmen auch gut ein Drittel der gebrauchten Bezeichnungen mit popularphilosophischen L. überein: mehr noch weisen auf jüdische Tradition oder entstammen der missionarischen Absicht wie der konkreten Gemeindesituation. Vor allem wird das verschiedene Ideal der Sittlichkeit (ἀπάθεια, Gelassenheit, Affektlosigkeit – ἀγάπη, Liebe) in der Bewertung oder Auslassung einzelner Grundbegriffe deutlich. Ebenso knüpft das Neue Testament gern an das spätjüdische dualistische Denkschema der zwei Wege an und versteht den Menschen als unter die bestimmende Gewalt zweier gegensätzlicher Mächte gestellt [8].
Über Philon, der nicht nur die beiden Quarternare der Stoa häufig zitiert, sondern zu einem festen Schema von acht Lastern verbindet und allegorisch nach Deut. 7, 1 (sieben feindliche Völker Kanaans und der Hauptfeind Ägypten) deutet [9], gelangt der L. in dieser fixierten Sonderform zu den Kirchenvätern. Der Ἀντιρρητικός (Gegenschrift) des Euagrios Pontikos[10] und die ‹Conlationes› des Johannes Cassianus[11] sind die ersten literarischen Zeugen der in der mündlichen Tradition des Mönchtums bewahrten Achtlasterlehre. Aus dieser Quelle hat sie vor allem Gregor der Grosse empfangen und der späteren Theologie vermittelt. Er hat dabei die sonst, z.B. in Bußbüchern des 7. bis 10. Jh., noch beibehaltene Achtzahl um der Zahlensymbolik und Allegorese willen geändert. Die Hoffart (superbia) ist ihm Wurzel und Mutter, die anderen sieben Laster die Töchter, von deren jeder wieder sieben andere Laster abgeleitet werden [12]. Schließlich ist die sogenannte Saligia-Reihe der sieben Hauptsünden mit dem Merkvers «dat septem vicia dictio saligia» entstanden, so genannt nach den sieben Anfangsbuchstaben: superbia (Hoffart, Hochmut, Stolz), acedia (Unlust, Trägheit), luxuria (Begehrlichkeit, Vergnügungssucht), ira (Zorn), gula (Genußsucht), invidia (Neid), avaritia (Geiz). Von Petrus Lombardus und Hugo von St. Viktor bis zu Thomas von Aquin und Johannes Gerson, die sich alle auf Gregor berufen, werden diese sieben Laster im Mittelalter als die «Quellen aller Verderbnisse der Seelen» genannt [13]. Die Reihe ist, nach den wichtigsten Zielen menschlichen Begehrens geordnet und als Wurzelsünden verstanden, in die Volksliteratur eingegangen.
Luther gebraucht sie noch in den früheren Schriften [14]. Für die katholischen Katechismen der Neuzeit ist wohl der des Petrus Canisius zur Übernahme der Formel Vorbild gewesen. In eigenständiger Weise hat Kant, ausgehend von den ursprünglichen Anlagen der menschlichen Natur, eine Einteilung unternommen. Die «Anlage für die Tierheit» kann zu den «Lastern der Rohigkeit der Natur», den «viehischen Lastern der Völlerei, der Wollust und der wilden Gesetzlosigkeit» entarten, die «Anlagen für die Menschheit» können zu den «Lastern der Kultur», den sogenannten «teuflischen Lastern» wie Neid, Undankbarkeit, Schadenfreude, Nebenbuhlerei usw. führen, während allein auf die «Anlage der Persönlichkeit», «die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz» «schlechterdings nichts Böses gepfropft werden kann» [15].
[1]
A. Deissmann: Licht von Osten (1908) 267.
[2]
R. Reitzenstein: Die hellenist. Mysterienrelig. nach ihren Grundgedanken und Wirkungen (31927) 265–275.
[3]
SVF 3, 20: Nr. 83; 3, 65, 17ff.: Nr. 265.
[4]
SVF 1, 51, 32ff.: Nr. 211; 3, 92, 15f.: Nr. 378; 3, 94, 6f.: Nr. 386.
[5]
Zu Diogenes Laertios vgl. SVF 3, 99, 34: Nr. 412; 3, 96, 22ff.: Nr. 396; zu Andronikos vgl. SVF 3, 96, 35ff.: Nr. 397; 3, 97, 41ff.: Nr. 401; 3, 100, 15ff.: Nr. 414; zu Cicero vgl. SVF 3, 97, 22: Nr. 398; 3, 98, 8: Nr. 403; 3, 99, 15: Nr. 410; 3, 101, 1ff.: Nr. 415.
[5a]
4. Makk. 1, 26; 2, 15; vgl. U. Breitenstein: Beob. zu Sprache, Stil und Gedankengut des 4. Makk.buchs (Diss. Basel 1976) 134–143, bes. 136.
[6]
Etwa Röm. 1, 29–31; 1. Kor. 6, 9–10; 2. Kor. 12, 20f.; Gal. 5, 19–21; Eph. 5, 3–5; Kol. 3, 5–8; 1. Tim. 1, 9f.; 2. Tim. 3, 2–5; aber auch MK. 7, 21f.; Mt. 15, 19; Apk. 21, 8.
[7]
1. Joh. 2, 16.
[8]
Gal. 5, 19–23; Eph. 5, 3–9.
[9]
Philon, De congressu eruditionis gratia 15, 83. Opera, hg. L. Cohn/P. Wendland (= C/W) 3, 88, 22ff.; vgl. De opificio mundi 26, 79 = C/W 1, 27, 11; De sacrificiis Abelis et Caini 4, 15 = C/W 1, 207, 17ff.; De migratione Abrahami 11, 60 = C/W 2, 280, 1ff.; De mutatione nominum 36, 197 = C/W 3, 190, 13ff.
[10]
Euagrios Pontikos, Antirrhetikos, hg. bei W. Frankenberg: Euagrius Pontikus (1912); vgl. Monachikos/Traité pratique ou le moine, griech./frz. hg. A. und C. Guillaumont, in: Sources chrétiennes 170/71 (Paris 1971).
[11]
Joh. Cassianus: Conlationes/Conférences, griech./frz. hg. E. Pichery, in: Sources chrétiennes 42 (Paris 1955).
[12]
Gregor der Grosse, Expositio in Job XXXI, 43, 87. MPL 76, 620f.
[13]
Hugo von St. Viktor, S. Sententiarum 3, 16. MPL 176, 113; vgl. Thomas von Aquin, S. theol. I/II, 84, 4 ad 5.
[14]
M. Luther: Eine kurze Form der zehn Gebote, eine kurze Form des Glaubens, eine kurze Form des Vaterunsers (1520). Weimarer A. 7, 211f.
[15]
I. Kant, Die Relig. innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft I, Stück I. Akad.-A. 6, 26ff.
O. Zöckler: Das Lehrstück von den sieben Hauptsünden (1893). – P. Wendland: Philo und die kynisch-stoische Diatribe. Beitr. zur Gesch. der griech. Philos. und Relig. (1895). – P. Schulze: Die Entwickl. der Hauptlasterlehre und Tugendlehre von Gregor dem Grossen bis Petrus Lombardus (Diss. Greifswald 1914). – F. Hörhammer: Die sieben Hauptsünden 1: Das Achtlasterschema und dessen Umbildung durch Gregor den Grossen (Diss. München 1924, Ms.). – J. Stelzenberger: Die Beziehungen der frühchristl. Sittenlehre zur Ethik der Stoa (1933). – A. Vögtle: Die Tugend- und L. im NT. Neutestamentl. Abh. 16 (1936) H. 4/5. – M. Pohlenz: Die Stoa. Gesch. einer geistigen Bewegung 1. 2 (1948/49). – S. Wibbing: Die Tugend- und L. im NT. Beih. Z. neutestamentl. Wiss. 25 (1959).