Merkabah (hebr.
märkabah, Wagen, Kriegswagen
[1]). Die Vorstellung, daß die Gottheit auf einem Wagen einherfährt
[2], scheint auf mesopotamische Mythen zurückzuführen zu sein
[3]. In 1. Chr. 28, 18 ist M. ein terminus technicus für eine «kultarchitektonische Größe» zur «Veranschaulichung eines mythischen Sachverhaltes»
[4]. Verbessert man Ez. 43, 3
nicht mit LXX, sondern wählt die Lesart der versio syriaca, dann nennt Jesus Sirach (49, 8) zum erstenmal das Gefährt der Vision Ezechiels (Ez. 1, 1–28 und Ez. 10) einen Wagen (
harma)
obwohl 1. Chr. 28, 18 die Vorstellungsinhalte der Vision des Ezechiel als bekannt voraussetzt.
Die älteren rabbinischen Zeugnisse bezeichnen mit ‹M.› sowohl ganz konkret den
Thronwagen in der Ezechiel-Vision als auch den
Textabschnitt Ez. 1, 1–28 bzw. den gesamten
Inhalt dieser Vision
[5]. Wenn in rabbinischen, mystischen oder philosophischen Texten von M. gesprochen wird, so wird damit immer direkt oder indirekt an die Vision Ezechiels angeknüpft, die dann kosmologisch oder kosmogonisch interpretiert wird. Aus diesen Gründen war schon im 1. Jh. das Buch Ezechiel bei den Rabbinern umstritten
[6]. Für die Geschichte der Entwicklung kosmologischer Spekulationen im Judentum ist m.Chagiga II, 1 eine der Zentralstellen: «Die Inzest-Gesetze dürfen nicht unter Dreien, die Schöpfungsgeschichte (
Maasseh Bereschit) darf nicht unter Zweien und die
märkabah darf auch nicht für sich alleine erörtert werden, es sei denn, daß er ein Gelehrter ist und es aus eigener Erkenntnis versteht.» ‹Maasseh Bereschit› bedeutet wörtlich «Tat am Anfang» in Anspielung auf Gen. 1; schon in der tannaitischen Zeit aber wird darunter nicht nur die Schöpfungs
tat verstanden, sondern die
Lehre von der Schöpfung, kosmogonische Spekulationen über die Erschaffung der Welt und den Aufbau der himmlischen Welten
[7]. In Angleichung an ‹Maasseh Bereschit› sprechen die rabbinischen Zeugnisse (in der Zeit, als ‹Maasseh Bereschit› schon
Lehre von der bzw.
Spekulation über die Weltschöpfung bedeutete) von ‹
Maasseh M.› (wörtl. Tat vom [des] Wagen[s]), weshalb in frühen lateinischen Übersetzungen von hebräischen Texten oder in lateinischen Abhandlungen über die jüdische Mystik oft ‹opus Mercava› oder ‹opus de Mercava› zu finden ist
[8]); in Analogie zu ‹Maasseh Bereschit› meinten sie damit die Lehre vom Wagen, d.h. Spekulationen im Anschluß an Ez. 1, 1–28 über die jenseitige und zukünftige Welt, die Maße des Himmels, die Gestalt und das Aussehen der Gottheit, die auf dem Wagen einherfährt oder auf diesem thront, und die Kräfte, die sie umgeben
[9]. Solche Spekulationen, die z.B. besonders auch von
R. Jochanan ben
Zakkai gepflegt wurden
[10], waren nicht jedermann zugänglich und bilden die jüdische Esoterik
[11].
Da die M.-Spekulationen in den rabbinischen Zeugnissen über die jenseitige und zukünftige Welt – so besonders die Parabel ‹Vier traten in das Paradies ein›
[12] – gleichzeitig Spekulationen über die «Herrlichkeit» (
Kabod) des Schöpfers sind (z.T. wird ‹M.› sogar synonym mit ‹Kabod› verwendet
[13]), die im Anschluß an Ez. 1, 26 als körperliche Gestalt angesehen wurde, entwickelte sich daraus schon früh ein Zweig der jüdischen Mystik, der gemeinhin mit
Schicur Koma-Mystik bezeichnet wird
[14]. Es sind dies anthropomorphistische Überlegungen über «das Maß des Körpers» der Gottheit, die auf dem Thronwagen (M.) in ihrer Herrlichkeit (Kabod) erscheint
[15]. Der M.-Mystiker durchwandert in ekstatischer Schau die 7 Himmel und die 7 Tempel (
Hekhalot), um endlich vor dem «Thron der M.», der im 7. Tempel (bzw. Halle) steht, die Gottheit selbst zu schauen
[16].
In der Tosefta zu Megilla IV ist dann zum erstenmal davon die Rede, daß die M. «geschaut», «gesehen» wird
[17]. Bei der – zum Teil mit Gefahren verbundenen
[18] – «Himmelsreise der Seele» steigt der M.-Mystiker aber nicht
hinauf in die himmlischen Welten
[19], sondern er steigt herab: «Alle diese Gesänge und all diese Werke hörte R. Akiba, als er herabstieg zur M. und sich festhielt, um sie von seiner Herrlichkeit (Kabod) her zu lernen»
[20]. Darum heißen diese Mystiker in ihrer Selbstbezeichnung
auch
Jorde M.: «die zur M. Herabsteigenden»
[21].
Gerade der anthropomorphistische Charakter dieser Spekulationen aber veranlaßte die Forschung lange Zeit, diese Art Mystik als «durch und durch unjüdisch und anti-jüdisch» abzustempeln; es wurde vermutet, daß die Schi
cur-Koma-Mystik «keinen jüdischen Ursprung haben kann»
[22]. Diese Ansicht, die auch von jüdischen Philosophen des Mittelalters vertreten worden war – z.B. von
Mose ben
Maimon[23] – ist durch
G. Scholem an verschiedenen Stellen
[24] widerlegt worden: Die M.-Mystik, die zum großen Teil noch der talmudischen Zeit zugehört, reicht in ihren zentralen Gedanken bis ins 1. Jh. zurück und ist in direktem Zusammenhang mit genuin jüdischen Gedanken in rabbinischen Kreisen zu sehen («jüdische Gnosis»), wobei neben der allegorischen Auslegung von Ez. 1 besonders die des Hohen Liedes eine Rolle gespielt hat
[25], wie schon
Origenes bemerkt
[26].
Der Terminus ‹M.› erfuhr indes schon früh eine weitere Umdeutung: im ‹Sefär Jezira› (2.–3. Jh.) wird der Terminus zum erstenmal
spekulativ interpretiert, und spätestens seit dem Jezira-Kommentar des
Jehuda ben
Barzilai (erstes Drittel des 12. Jh.) wird unter ‹M.› (bzw. Maasseh M.) Metaphysik und Ontologie verstanden
[27] – im Gegensatz zur Maasseh Bereschit, die als Physik und Astronomie gedeutet wurde
[28]. Der ‘Rationalismusʼ der jüdischen Philosophie des Mittelalters kann von dieser Umdeutung des Terminus ‹M.› her verstanden werden; besonders bekannt wurde die Definition des
Mose ben
Maimon (1135–1204), «daß Maasseh Bereschit die Naturwissenschaft, hingegen Maasseh M. die Metaphysik bedeute»
[29]. Maimonides widmet der Maasseh M. im ‹More Nebuchim› die Kapitel III, 1–7 mit einer längeren Vorbemerkung, wobei aber zu beachten ist, daß nach ihm die M. «der Pfeiler» ist, «der das Ganze zusammenhält, und ‘die Säule, auf der das Ganze ruhtʼ »
[30]. Diese Erörterung der M. ist das Kernstück des ‹More Nebuchim› (Führer der Unschlüssigen); alle anderen Kapitel müssen auf die M.-Kapitel bezogen werden
[31]. ‹Maasseh M.› bedeutet bei Maimonides aber nicht ‹Metaphysik› im aristotelischen oder im neuzeitlichen Sinne, sondern – da es nach ihm keine Erkenntnis der wie auch immer benannten Gottheit und ihrer Welt gibt – die an der Naturwissenschaft (Maasseh Bereschit) ausgerichtete Naturphilosophie als Lehre von der Gesamtheit des von dem einen Gott Erschaffenen
[32].
Neben dieser ‘rationalistischenʼ Umdeutung des Begriffs ‹M.› durch die jüdische Philosophie ist andererseits aber auch eine Tradition festzustellen, die die visionäre alte M.-Mystik noch einmal
gnostisch zu hinterfragen suchte. Hier ist besonders das ‹Sefär Ha-Bahir› zu nennen, in dem der Begriff ‹M.› an verschiedenen Stellen anzutreffen ist
[33]. (In der dort vorgenommenen Umdeutung ist er für die späte kabbalistische Interpretation der M. von besonderer Wichtigkeit
[34].) § 60 heißt es: «Und was bedeutet es, daß wir sagen: [etwas] steigt im Denken auf, und nicht sagen: es steigt hinab, während wir doch sagen: Wer sich in die Schau der M. versenkt, steigt hinab und steigt [erst] nachher wieder auf. Dort [steht hinabsteigen], weil wir sagen: Wer sich in die Schau der M. versenkt ..., und das Targum übersetzt ‹zephijja› mit ‹sekhutha›, Ausschau, wie im Vers [Jes. 21, 8]: ‘Und er ruft, ein Löwe, auf der Ausschau nach Gottʼ, hier aber beim ‘Denkenʼ findet keinerlei Schau mehr statt und keinerlei Grenze. Und alles, was weder Ende noch Grenze hat, duldet kein Hinabsteigen, wie die Leute [zwar] sagen: Jemand ist bis ans Ende der Meinung eines anderen hinabgestiegen, nicht aber: bis ans Ende seines Denkens»
[35].
Scholem spricht im Hinblick auf diese Stelle von einem «mystischen Rationalismus»
[36]: Die ekstatische
Schau der alten M. wird überboten durch das gegenstandslose, sich selbst genügsame, reine unendliche Denken (
Machschabha), in dem «die Wahrheit ist»
[37]. Die Kabbala – z.B.
Isaak der
Blinde[38] – wird dieses ‘Denkenʼ dann als
En-Sof auffassen: als schöpferisches, reales Unendliches, als «Bezeichnung jener verborgenen Realität des Herrn aller Logoi, des Gottes, der in den Tiefen seiner eigenen Wesenheit sich verbirgt»
[39].
In der lateinisch schreibenden Philosophie taucht der Terminus ‹M.› bei den ‘christlichen Kabbalistenʼ seit
Pico della
Mirandola[40] auf als: ‹
merchiana, Merchana, Marcana, Mercana, Mercava›
[41]. Die M. wurde angesehen als der wichtigste Teil der spekulativen (bzw. kontemplativen) Kabbala (neben der Maasseh Bereschit), genauer als die Lehre «de divinis, de mediis et sensibilibus naturis»
[42], als «sapientia divinitatis»
[43], als «scientia ... de sublimioribus divinarum, angelicarumque virtutum, ac sacrorum nominum, et signaculorum contemplatonibus»
[44], auch als Lehre «de tribunali Dei disserentes per numeros, per figura, per revolutiones, per symbolicas rationes»
[45]. Da die christlichen Kabbalisten – neben häufiger Berufung auf Maimonides – sich besonders an dem «Sohar» ausrichteten, wurde die M. auch speziell als die Lehre von den
Sephiroth angesehen: 1675 schreibt
H. Morus einen Traktat mit dem Titel ‹Catechismus Cabbalisticus sive Mercaveus, quo, in Divinis Mysteriis Mercavae Ezechieliticae ecplicandis et memoria retinendis Decem Sephirotharum usus egregie illustratur›
[46], und auch
Chr. Knorr von Rosenroth definiert zwar M. als «currus, vehiculum Thronus, sella currulis», spricht dann aber nur von den Sephiroth
[47], weshalb auch
J. Brucker mit Berufung auf Rosenroth nicht nur sagt, die M. gehöre zur «cabbala contemplativa», sondern auch betont, sie gehöre «insonderheit zu der Lehre von den Sephiroth»
[48]. Der christliche Kabbalist
F. J. Molitor schreibt: «Die Verbindung der Stufen in dem Universum, da die Oberen relativ als das active, männliche führende, und die Unteren als das respective weibliche oder geführte sich verhalten, und eine die andere wechselseitig nötig hat, wird in der Kabbalah die M'rkabah, der Wagen genannt»
[49].
Jüngere philosophische Interpretationen der M. finden sich z.B. bei
H. Cohen[50],
F. Rosenzweig[51] und
L. Baeck[52]. Neuste phantasievolle Spekulationen sehen in der M. der Vision Ezechiels ein Raumschiff außerirdischer Astronauten (
E. von Däniken) bzw. ein Landefahrzeug, das von einem außerirdischen Raumschiff abgesetzt worden war (
J. F. Blumrich)
[53].