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Nezessitieren

Nezessitieren 2753 10.24894/HWPh.2753 Redaktion
Ethik und Moralphilosophie Willensfreiheit nötigen zwingen Necessitante6 800 Prädestination6 800 Neigung Nezessitarismus6 800
Nezessitieren (mlat. necessitare, nötigen) ist eine Neubildung der Scholastik, die besonders in der Diskussion um die Willensfreiheit Verwendung findet. Philosophisch pointiert erscheint sie offensichtlich zuerst bei Thomas von Aquin, wo ‹necessitare› dasselbe wie ‹determinare› bedeutet, so z.B. wenn von der Kraft des Samens zur Vereinigung von Körper und Seele gesprochen wird, «disponendo materiam ultima dispositione, quae est necessitans ad formam» [1]. Thomas referiert als die Ansicht anderer, daß der menschliche Wille nicht frei sei, sondern vom Schicksal genötigt werde (negant liberum arbitrium, dicentes quod homo necessitatur a fato) [2]. Die Gestirne nezessitieren nur die Vermögen der Seele, die an körperliche Organe gebunden sind, die anderen hingegen inklinieren sie bloß. «In potentiis autem organis non affixis nullo modo agunt necessitando, sed inclinando tantum» [3]. In pseudo-thomistischen Schriften wird zwischen rein materiellen Geschöpfen, bei denen ein N. und Determinieren stattfinde, und Verstand und Wille (intellectus et voluntas) unterschieden, die in ihren Vollzügen nicht nezessitiert werden (non necessitantur in operationibus suis) [4], oder doch nur «in gewisser Weise» (quodammodo) [5]. Auch für Gott kann es kein äußeres oder inneres N. geben [6]. Der freie Wille wird auch nicht, so die Verurteilung des Averroismus von 1277, von der «ratio» oder «cognitio» durch N. eingeschränkt [7]. Dennoch bleibt gerade dies in der Folgezeit Gegenstand der Diskussion. So fragt man sich, ob ein evidenter, in sich selbst einsichtiger Satz zur notwendigen Zustimmung führe, «cum ratio evidens necessitet intellectum ut oppositum eius, quod est certitudinaliter notum, non potest credi» [8]. Ähnlich sieht Dante eine Einschränkung des monarchischen Willens durch den ihm in den Gesetzen vorgeschriebenen Zweck: «Monarcha necessitatur a fine sibi praefixo in legibus ponendis» [9].
F. Suarez unterscheidet eine «necessitas quoad exercitium» von einer «necessitas quoad specificationem»: Mit letzterer ist ein N. des Willens durch Gott gemeint, insofern unter mehreren Möglichkeiten der Wahl nur eine eröffnet wird. Es handelt sich also nicht um eine absolute Notwendigkeit des Handelns oder Willens, sondern «conditionata agendi hoc, si voluntas agere velit» [10].
Bei R. Descartes und P. Bayle wird N. im Zusammenhang der Freiheit Gottes diskutiert. Descartes läßt Gott die Möglichkeit offen, die ewigen Wahrheiten auch nicht gewollt zu haben: «car c'est toute autre chose de vouloir qu'elles fussent nécessaires, & de les vouloir nécessairement, ou d'estre nécessité à les vouloir» [11]. Bayle weist jede Spekulation, daß Gott die Welt und auch das Übel zur Offenbarung seiner Herrlichkeit notwendig erschaffen habe, zurück. Durch seine Güte allein erfolgte die Schöpfung und nicht dadurch, daß er «avoit été nécessité par sa nature à faire tout ce qu'il a fait» [12].
Für Leibniz kann der Wille (volonté) des Menschen wohl geneigt gemacht (inclinée), nicht aber genötigt (nécessitée) werden [13]. Der Wille wird zwar immer die Partei ergreifen, der er mehr als jeder anderen zuneigt, aber er ist dadurch nicht genötigt. Ein überwiegender Grund treibt den Menschen zu seiner Wahl, aber der freie Wille bleibt erhalten [14]. So besteht kein Gegensatz zwischen ‘freiʼ und ‘bestimmtʼ: «Man ist niemals völlig gleichgültig im Sinne eines indifferenten Gleichgewichts; man ist immer mehr geneigt (plus incliné) und folglich stärker bestimmt (plus déterminé) für die eine als für die andere Seite: trotzdem aber ist man niemals zu der ergriffenen Wahl genötigt (nécessité)» [15]. Dasselbe gilt für Gott in bezug auf die Schöpfung: «Die freie Substanz trifft ihre Entscheidung von sich aus und folgt hierbei dem Motiv des Guten, das der Verstand erkennt und das die Substanz ohne Nötigung geneigt macht (qui l'incline sans la nécessiter)» [16]. Der Lehre von der besten aller Welten wird aber entgegengehalten, daß Gott zu ihrer Wahl genötigt gewesen sei, da alle anderen unvollkommener und daher unmöglich seien (dogma necessitationis ad Unum Optimum) [17].
Der Begriff ‹N.› ist auch in der Folgezeit in der Diskussion um das Problem der Willensfreiheit präsent [18]. Er wird eher umgangssprachlich gebraucht bei J.-J. Rousseau[19], eingedeutscht mit «zwingen» (in Abgrenzung zu «neigen», geneigt machen) [20], besser aber, wie bei Kant, durch «Nöthigung durch Antriebe der Sinnlichkeit» umschrieben, wovon die «Freiheit im praktischen Verstände» unabhängig ist, denn «die menschliche Willkür» wäre «thierisch (arbitrium brutum), wenn sie pathologisch necessitirt werden kann» [21].
Im 19. Jh. spricht J. St. Mill von den «necessitarians», die glauben, daß alle unsere Handlungen mit Notwendigkeit aus dem Charakter, der Erziehung usw. folgen und die deshalb den Fatalisten gleichkommen [22]. I. P. V. Troxler gebraucht «Necessitation» als Synonym von «Prädestination» [23]. Seitdem kann ‹Nezessitarismus› als philosophiegeschichtliche Interpretationskategorie verwendet werden [24]. In der Logik verwendet E. J. Hamilton «Necessitante» für «Antecedens», den Obersatz einer Schlußfolgerung [25].
[1]
Thomas von Aquin, Quaest. disp. de potentia III, 9 ad 2; vgl. Super ad Phil. 2, 3; in 2 Sent. V, 2, 1 resp.; XIII, 1, 3 ad 9; In 4 Sent. XI, 1, 3 b.
[2]
Super ad Philippenses 2, 3, no. 77.
[3]
Super Ev. Matth. 2, 1; vgl. auch Johannes von Jandun, zit. bei A. Gewirth: Marsilius of Padua (New York 1951) 1, 57.
[4]
Petrus de Alvernia, In Polit. cont. VII, 5, 6; vgl. Guilelmus Wheatley, In Boethii de cons. philos. IV, 11; V, 3; V, 4; Cajetan, In peri herm. cont. II, 11.
[5]
Petrus Johannis Olivi, Postilla in lib. gen. 19.
[6]
Guilelmus Wheatley, a.O. [4] III, 18.
[7]
Zit. bei P. Mandonnet: Siger de Brabant et l'averroïsme latin au XIIIe siècle (Louvain 21908–11) 2, 187f.
[8]
Franciscus de Mayronis, Quaest. quodl., clm. 3726, f. 238r.
[9]
Dante, De monarchia I, 12.
[10]
F. Suárez, De necessitate gratia. Op. omn. 7 (Paris 1857) 17.
[11]
R. Descartes, Oeuvres, hg. Adam/Tannery (ND Paris 1964–73) 1, 152; 4, 118f.
[12]
P. Bayle, Oeuvres div. 3 (Den Haag 1727) 811; vgl. 813.
[13]
G. W. Leibniz: Essais de Théodicée § 371. Philos. Schr., hg. C. I. Gerhardt 6, 335.
[14]
Théod. § 43. 45, a.O. 126f.; vgl. § 53, a.O. 132.
[15]
§ 132, a.O. 184; Übers. Buchenau.
[16]
§ 288, a.O. 288; Übers. Buchenau; vgl. § 228. 230, a.O. 253. 255.
[17]
Chr. E. Weismann: De praejudicio, quod adcrescit veritatibus primariis de providentia Dei ... (1722).
[18]
Vgl. M. Mendelssohn, Ges. Schr. 3 (1843) 369f.; Voltaire, Philos. de Newton I, 4. Oeuvres, hg. Beuchot 38 (Paris 1930) 28; A. G. Baumgarten: Metaphysica (31759) § 701ff.
[19]
J.-J. Rousseau, Confessions XII. Oeuvres compl., hg. B. Gagnebin/M. Raymond 1 (Paris 1959) 650.
[20]
J. G. Herder, Ideen zur Philos. der Gesch. der Menschheit VII, 3. Sämtl. Werke, hg. B. Suphan 13 (1887) 273.
[21]
I. Kant, KrV A 534/B 562.
[22]
J. St. Mill: A system of logic VI, 2 (London 101879) 2, 424f.
[23]
I. P. V. Troxler: Naturlehre des menschl. Erkennens oder Met. (1828), hg. W. Aeppli (1944) 247.
[24]
E. Gilson: L'esprit de la philos. médiév. (Paris 21944) 350. 355f.
[25]
E. J. Hamilton: The perceptionalist (New York 1899) 147; Erkennen und Schließen (1912) 4. 34. 84. 94. 211ff. u.ö.