Rhizom. In die philosophische Diskussion vor allem im Umkreis des Poststrukturalismus ist der botanische Terminus ‹Rh.› (von griech.
ῥίζωμα ‘Wurzelwerkʼ) eingeführt worden durch das 1976 vorveröffentlichte programmatische Einleitungskapitel des zweiten Bandes von
G. Deleuzes und
F. Guattaris Werk ‹Capitalisme et schizophrénie›
[1], das erst vier Jahre später erschien. Dort nehmen die Autoren zu mehreren Möglichkeiten Stellung, wie das Verhältnis des Buches zur Welt zu denken sei. Das eine (biologisch inspirierte) Modell ist der hierarchische Aufbau der Arbor porphyriana, deren Wurzelsystem die gleiche logisch-begriffliche Hierarchie aufweist wie der Baum. Dieses Denkmodell, das die Vielheiten stets auf die Einheit des Stamms oder der Pfahlwurzel zurückbezieht, hat «die Vielheit nie begriffen»
[2]. Aber auch das zweite Modell, das «System der kleinen Wurzeln»
[3], für das etwa Nietzsches Schreiben in Aphorismen exemplarisch wäre, gibt die Orientierung an der Einheit des Opus bzw. des Wurzelzusammenhangs nicht auf, und auch dieses ist noch der Idee «des Buchs als Bild der Welt» verpflichtet. Erst der Wurzelzusammenhang des Rh. mit Knollen, Knötchen, Verästelungen, Sprossen, Würzelchen gibt sowohl die Einheit auf als auch den Unterschied von unterirdischen und überirdischen Pflanzenteilen. Biologische Beispiele bei Deleuze/Guattari sind: Quecke, Meersalzkraut, der Bau eines Tieres, Rattenmeuten u.a. Rh.e (als biologische Aggregate und als Aggregate des Schreibens) sind durch folgende Merkmale gekennzeichnet: 1. «Jeder beliebige Punkt eines Rh. kann und muß mit jedem anderen verbunden werden»
[4]. 2. Ein Rh. verkettet Verschiedenartiges miteinander, die Linien der Verkettung verweisen nicht zwangsläufig auf andere Linien, sondern u.U. auf ganz Heterogenes, z.B. Sprachstrukturen auf Machtstrukturen, aber nicht in der Weise, wie Zeichen (etwas anderes als Zeichen) bedeuten. 3. Rh.e bilden Vielheiten auf vieldimensionalen Konsistenzebenen ohne jeden Rückbezug auf Einheit. Rh.e haben «viele Eingänge». Sie
bestehen nicht aus Einheiten, sondern aus einer Dimensionen-Vielfalt. 4. Rh.e bilden Brüche zwischen bisherigen Verteilungen, so daß die Autoren die Redeweise einführen: «Rh.e machen» mit etwas, d.h. den bisherigen Geltungsbereich überschreiten und eine rhizomatische Linie in das Außerhalb ziehen. 5. Rh.e bilden Karten und nicht Kopien. Von daher wird deutlich, daß das Modell des Rh. etwas ganz anderes ist, als der Begriff der Struktur meint. Während eine Struktur durch Punkte, Positionen und Relationen zwischen ihnen
gekennzeichnet ist, ist das Rh. die Ausdehnung von Linien über Vielheiten von Dimensionen hinweg. Während strukturelles Denken sich über Modelle in eine Bild-Relation zur «Realität» setzt, ist das Rh. eine Bewegung
der Realität, die mit anderen Dimensionen «Rh.e macht». «Das Rh. geht durch Wandlung, Ausdehnung, Eroberung, Fang und Stich vor ... es ist einzig und allein durch die Zirkulation der Zustände definiert»
[5]. Rhizomatisches Denken verläßt alle hergebrachten Kriterien von Wissenschaft; denn die Dreispaltung von Repräsentation, repräsentiertem Objekt und repräsentierendem Subjekt ist in der Figur des Rh. ohne Bedeutung. Am ehesten wäre noch die Mathematik eine Ausformulierung der Rhizomatik: kein Subjekt, kein Objekt und daher auch keine Repräsentation des einen für das andere, nur noch ein wuchernder Jargon. Gleichwohl versagen Logik, Mathematik und andere strukturorientierte Denkweisen in der theoretischen Darstellung von Rh.en, weil sie dem Prozeßcharakter der Rhizomatik nicht gerecht werden können, auch wenn zuweilen hilfsweise auf eine solche Darstellungsweise zurückgegriffen wird
[6]. Wenn die Autoren verschiedentlich dazu aufzufordern scheinen, Rh.e zu machen, so ist dieses sicherlich nicht wörtlich zu nehmen, weil es im Sinne ihres Modells gerade nicht vom Bewußtsein und einem Appell an das Bewußtsein abhängt, ob sich Rh.e bilden. Und wenn man also vorhätte, Rh.e zu machen, so könnte sich vielleicht unterirdisch und mächtiger zugleich ein ganz anderes gegen Willen und Absichten herausbilden
[7]. Rh. als Modell und Rhizomatik als eine Schreibweise poststrukturalistischen Denkens haben durch die deutsche Übersetzung des vorveröffentlichten Einleitungskapitels von ‹Mille plateaux› im Jahre 1976 eine gewisse modische Aktualität erhalten; eine eigentliche wissenschaftliche Auseinandersetzung ist jedoch durch sehr oberflächlich-abqualifizierende Urteile («Das alles ist höchstens komisch»
[8]) erschwert worden und hat bisher nicht stattgefunden.