Tod Gottes (engl. death of God; frz. mort de Dieu). Mit kaum einer anderen Lehre hat sich
F. Nietzsche so tief ins Bewußtsein der Nachwelt eingeschrieben wie mit der These vom T.G. Nach einem frühen Vorklang («Ich glaube an das urgermanische Wort: alle Götter müssen sterben»
[1]) wird sie außer in mehreren verstreuten Fragmenten am nachdrücklichsten in der Parabel vom «tollen Menschen» vorgetragen
[2]. Als Quelle dafür diente vermutlich
H. Heine, der zur Religionskritik der Aufklärung bemerkte, daß damit «der alte Jehova ... sich zum Tode bereite»
[3]. Im Blick auf dessen Begründung dürfte
Nietzsche die Parabel zu einem Widerruf des ontologischen Gottesbeweises stilisiert haben. Aber zuvor machte schon
Hegel als das, «worauf die Religion der neuen Zeit beruht», das Gefühl aus, «Gott selbst ist todt», fügte jedoch hinzu, dies sei nur
ein «Moment der höchsten Idee»
[4]. Die Erfahrung vom T.G., für die neben dem von Hegel selbst genannten Ausspruch
B. Pascals vom «Dieu perdu»
[5] auch ein von Aussagen
M. Luthers[6] mitbestimmtes barockes Kirchenlied als Anregung diente
[7], ist für
Hegel der Kreuzestod Christi, d.h. in spekulativer Deutung, die «Entäußerung des Göttlichen», das im Durchgang durch das Andere seiner selbst, zugleich die Vereinigung mit dem Menschlichen und Endlichen und «als die ungeheure Vereinigung dieser absoluten Extreme ... zugleich die unendliche Liebe» ist
[8]. Mit dem «Tod des Mittlers» ist die «Abstraction des göttlichen Wesens» gestorben. Es ist «das schmerzliche Gefühl des unglücklichen Bewußtseyns, daß Gott selbst gestorben ist»
[9], für das spekulative Denken bedeutet dies jedoch, daß der jenseitige Gott aufgehoben und in einen mit der Wirklichkeit des Diesseits vereinten Gottesbegriff überführt ist. Obwohl als «Kern» von Hegels System schon bald das «Gott ist todt» angesehen wurde
[10], kann seine Aussage aber kaum für den späteren atheistischen Nihilismus in Anspruch genommen werden
[11]. Trotzdem wird mit dem von ihm formulierten «harten Wort», «daß Gott gestorben ist»
[12], wie auch mit der von
Jean Paul in die Metapher eines «Traums» gekleideten Erkenntnis, «daß kein Gott sei»
[13], der folgenden Zeit eine bedrückende Erfahrung übermittelt.
Sie wird von
Nietzsche radikalisiert: Wenn der «tolle Mensch» das «ungeheure Ereignis» vom T.G. verkündet, so fügt er hinzu: «Gott bleibt todt!»
[14] Zum Bekenntnis «Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder»
[15] tritt die Ahnung hinzu, daß Gott «an seinem Mitleiden mit den Menschen ... gestorben» ist
[16], daß «er sich selber getötet» hat
[17]; denn ohne den Menschen kann Gott nicht existieren: «Gott starb: nun wollen wir – dass der Übermensch lebe»
[18]. Das Erschrecken über die Freveltat des Gottesmordes
[19] bedeutet auch, daß das Ereignis «viel zu gross, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermögen Vieler» ist, daß es gegenwärtig noch nicht begriffen werden kann. Für die «Philosophen und ‘freien Geisterʼ» bedeutet es aber den Anbruch «einer neuen Morgenröthe», das Erreichen des «offenen Meers» und eines freien «Horizonts»
[20]; es muß allerdings ausgehalten werden: «Wenn wir nicht aus dem Tode Gottes eine großartige Entsagung und einen fortwährenden Sieg über uns machen, so haben wir den Verlust zu tragen»
[21]. Zur Beschreibung des Verlusts verwendet Nietzsche dieselben Metaphern wie zur Charakterisierung
der «neuen Morgenröthe»: «Wohin ist Gott? Was haben wir gemacht? haben wir denn das Meer ausgetrunken? Was war das für ein Schwamm, mit dem wir den ganzen Horizont um uns auslöschten?»
[22] Der Destruktion der alten Ordnung des Gottesreichs entspricht atheistisch die Hinwendung zu einer als Höchstwert erhobenen Welt und der vollkommenen Einbürgerung in ihr. Die Botschaft vom tollen Menschen setzt sich fort in der weltlichen Heilslehre Zarathustras und der Nachlaßaufzeichnungen; ihnen allen eignet weniger eine antitheologische Relevanz als vielmehr das Programm eines neuen Seins- und Selbstverhältnisses.
Nietzsches Parabel erfuhr stark divergierende Auslegungen. Für
K. Barth war sie Ausweis einer von innen her angefochtenen Negation
[23], und für
E. Benz wurde sie erstmals zum negativ verschlüsselten Ausdruck einer spezifisch christlichen Spiritualität
[24]. Exponent dieser Aufwertung ist
M. Heidegger, der darin unüberhörbar den Ruf desjenigen vernimmt, «der Gott sucht, indem er nach Gott schreit»
[25]. Er gibt damit das Stichwort für eine Neuinterpretation vor allem bei Vertretern des Neuthomismus aus
[26]. Positiv ist auch das Verständnis
E. Jüngers («ein Schlußwort, das zugleich ... den Eintritt neuer Mächte ankündet»)
[27],
A. Camus' (Nietzsche wollte Gott nicht töten: «Il l'a trouvé mort dans l'âme de son temps»)
[28] und
J.-P. Sartres, der um der Freiheit des Menschen willen den T.G konstatieren muß: «Dieu est mort: ... il nous parlait et il se tait»
[29].
M. Buber antwortet darauf, daß das «göttliche Schweigen» zwar die Konsequenz des Zeitalters formuliert, das Verhältnis des Menschen zu Gott wie auch zum Anderen aber nicht als eine Subjekt-Objekt-Beziehung gedacht werden sollte, sondern als eine von Ich und Du
[30].
Die sog. Gott-ist-tot-Theologie nimmt Nietzsche auf, deutet das Wort vom T.G. aber um: Geht es
W. Hamilton zunächst nur um eine Theologie, die wesentlich Christologie ist
[31], so entwirft er dann zusammen mit
Th. J. J. Altizer eine «T.-G.-Theologie», die ernst damit macht und anerkennt, daß und warum wir in einer Zeit des abwesenden, verborgenen Gottes leben, der nicht mehr in traditionellen Formen verehrt und in herkömmlicher Sprache begriffen werden kann. Sie soll aber trotzdem eine christliche Theologie bleiben
[32], die auch, so Hamilton später, auf das Wiederkommen Gottes hofft
[33]. Ihre Akzentuierung des Glaubens an Christus trifft sich mit der Theologie
D. Sölles, für die Christus «den abwesenden Gott vertritt»
[34]. Kritiker der T.-G.-Theologie teilen zwar deren (an
K. Barth und
D. Bonhoeffer erinnernde) Religionskritik, beklagen aber die Preisgabe der Transzendenz Gottes
[35]. Andere wollen den Dualismus von Transzendenz und Immanenz überhaupt überwinden
[36].