Vertrauen (griech.
πίστις; lat. fiducia; engl. bes. trust; frz. confiance; ital. fiducia). Vor allem im griechischen, römischen und alttestamentlichen Gebrauch steht ‹V.› im Spannungsfeld von ‹Treue› (s.d.) und ‹Glauben› (s.d.). So ist interpersonelles V. nur eine Konnotation von
πίστις (Pistis, s.d.) bzw.
πιστεύειν. Nicht allen, sondern den Bewährten zu vertrauen, fordert
Demokrit[1]. Bedachtes, nicht aber blindes V.
[2] ist Sache der Ehre (
τιμή), ohne V. kann nach
Gorgias das Leben nicht gelebt werden
[3]. V. ist nicht nur wesentlicher Bestandteil von Freundschaft
[4], sondern auch der Polis-Struktur: Eine Tyrannis hat nach
Aristoteles nur unter Wahrung von Anonymität und Mißtrauen unter ihren Gliedern Bestand, Kenntnis/Bekanntheit (
γνῶσις), die gegenseitiges V. schafft, ist dabei zu vermeiden
[5]. Im Lateinischen ist neben dem weiten Begriff ‹fides›
[6] eine Spezifizierung für V. gegeben: ‹fiducia› (oder bei
Cicero auch «fidentia») steht vor allem für ein zuversichtliches
Selbstvertrauen, das sekundäre Tugend der Tapferkeit («fortitudo») ist: «V. ist, wodurch ein Geist in großen und ehrenhaften Angelegenheiten in sich selbst Zutrauen und sichere Hoffnung vereint» («fidentia est, per quam magnis et honestis in rebus multum ipse animus in se fiduciae certa cum spe collocavit»)
[7]. Bei
Seneca gewinnt «fiducia» unter Bezugnahme auf Epikur den Charakter innerer Sicherheit und ist in diesem Sinn auf ‹Gewissen/Bewußtsein› («conscientia») bezogen
[8]. Im Kontext von ‹Vertrag› («pactum») wird «fiducia» Bestandteil des römischen Privatrechts, da Übereinkünfte sowohl das V. des einen als auch die Zuverlässigkeit und Treue des anderen Partners erfordern
[9]. Eine entsprechende Formel lautet «fidi fiduciae causa»
[10].
Im alttestamentlichen Sprachgebrauch werden zwei Aspekte des V. hervorgehoben: Hoffnung und Sicherheit als Resultate des V. auf Gott, aber auch der Mut des Menschen, sich darin frei und offen gegenüber Gott zu verhalten
[11]; V. ist insofern grundlegendes V. in das Leben
[12]. Als Element des Glaubens
[13] geht V. nach
Paulus in jenem auf; im radikalen Sich-auf-Gott-Verlassen gibt der Mensch sogar das V. in die eigene Person preis
[14].
Für
Thomas von Aquin, der «fiducia» vor allem in Auseinandersetzung mit Cicero bestimmt, ist V. Bedingung der Tugenden Großmut («magnanimitas») und Tapferkeit («fortitudo») («fiducia ... potest nominare conditionem virtutis»)
[15], die ihrerseits an Hoffnung («spes») gebunden sind: V. ist letztlich Kraft der Hoffnung («robur spei»)
[16]. So sind V. zu anderen und zu sich – beide: durch Erfahrungswissen bekräftigte affektive Hoffnungen auf künftige Erfüllung von (erwarteten) Zuständen
[17] – für den Menschen als «animal sociale» bzw. selbstmächtiges Wesen («ipse aliquid potest») notwendig
[18], doch stehen sie unter der Prämisse des V. auf Gott («spes qua quis de Deo confidit, ponitur virtus theologica, ... Sed per fiduciam quae nunc ponitur fortitudinis pars, homo habet spem in seipso: tamen sub Deo»)
[19]. Der Mangel an V. ist nach Thomas in jedem Fall Furcht («timor»)
[20].
Th. Hobbes hingegen formuliert affektives V. positiv als Zeichen des Bewußtseins eigener Fähigkeiten («fiducia sui, pulchrum: nempe signum conscii virtutis suae»)
[21], dem beständige Verzweiflung über dieselben als Verwerfung des Selbst («desperatio continuata, animi abjectio»)
[22] gegenübersteht. Die begründete Vorstellung der eigenen Fähigkeit – Selbstvertrauen – wiederum ist Anlaß zu Freude («gaudium») und Stolz («gloria»)
[23]. Zuträglicher für die Moralität als V. in die eigene «lautere Gesinnung» wäre es nach
I. Kant (mit
Paulus: Phil. 2, 12), «'seine Seligkeit mit Furcht und Zittern zu schaffen'»,
wobei «ohne alles V. zu seiner einmal angenommenen Gesinnung» keine Beständigkeit derselben möglich ist
[24]. Mit moralischer Freundschaft als «völligem V. zweier Personen in wechselseitiger Eröffnung ihrer geheimen Urtheile und Empfindungen, so weit sie mit beidseitiger Achtung gegen einander bestehen kann»
[25], modernisiert
Kant aristotelische Bestimmungen für das ungesellige Gesellschaftswesen: In ihr ist der Mensch vor dem Mißbrauch im V. gegebener Informationen über sich und die Welt geschützt. Diskretion «im V. zwischen Menschen» ist für Kant auch allgemein Ausdruck eines «Vertrags der Sicherheit»
[26].
Relevanz hat dieser «Vertrag über die gegenseitige Sicherheit» zuvor in
J. G. Fichtes Treu-und-Glauben-Konzeption, nach der im häuslichen Bereich für interpersonelle Beziehungen und Verträge gegenseitiges V. maßgeblich ist
[27]. Dagegen ist der Staat «auf das allgemeine Mistrauen aufgebaut, auch wird ihm selbst nicht getraut, und ist ihm nicht zu trauen»
[28]. Gleichwohl ist auch für Fichte ‘V. auf Erfüllungʼ Bedingung jeglicher Verträge
[29]. Mit Blick auf das Gute im Menschen gibt er die Regel: «vertrauen Sie sich selbst und auf sich selbst. Man ist schwach, meistens darum, weil man sich für schwach hält. Wer Grundsätze hat und den festen Vorsatz gefaßt hat, ihnen treu zu bleiben ..., wird ihnen ... treu bleiben; denn unsre Entschliessungen sind in uns, nicht außer uns begründet»
[30]. Als Form der Anerkennung ist V. in
G. W. F. Hegels ‹Phänomenologie› Ausdruck von und für Selbstbewußtsein: «Wem ich vertraue, dessen Gewißheit seiner selbst, ist mir die Gewißheit meiner selbst; ich erkenne mein Fürmichseyn in ihm, daß er es anerkennt, und es ihm Zweck und Wesen ist»
[31].
Gegenstand zahlreicher Betrachtungen ist V. in der zweiten Hälfte des 20. Jh. So ist für
O. F. Bollnow V. ein Schlüssel zum «Problem einer Überwindung des Existentialismus» bzw. der Existenzphilosophie, in denen die «Krisis unsrer Gegenwart» – nämlich der Verlust des V. – zum Ausdruck kommt
[32]. Bollnow differenziert zwischen formulierbarem Fremdvertrauen
[33] und einem ungegenständlichen «Lebens-» oder «Seinsvertrauen», das als «allgemeine Stimmung» ausdrückt, «wie sich der Mensch von seinem Leben getragen und im Ganzen des Seins geborgen fühlt»
[34]. Gegen Bollnows Setzung von Hoffnung und V. – alternativ zu Sorge und Angst – als Tugenden wendet sich
R. Schottlaender[35]: V. des handelnden Wesens Mensch ist ihm (wie zuvor
N. Hartmann) ein Wagnis, ein risikoreicher Einsatz
[36], «ein Glauben an das Spontane auf Grund des Wissens von ihm in der Vergangenheit»
[37]. Während einseitige Glaubens- oder Wissensgewißheit über das nicht gänzlich Kalkulierbare wahre Quellen des Mißtrauens sind, führt die Vermittlung beider zu Sicherheit qua Gefühl des «Ruhens in den Dingen, Ereignissen, Einrichtungen» («‘Vertrautheitʼ») und «in den Personen oder deren Gemeinschaften» («‘V.ʼ im engeren Sinne»)
[38]. Die Kehrseite dieses identischen Prozesses der «Vertrauung» wären Selbst- und Weltentfremdung
[39]. Insofern führt die Erfüllung menschlichen V. auch zur Erfüllung seiner selbst.
Aus soziologischer Sicht
[40] stellt bereits
G. Simmel – neben der «mystischen» des «Glaubens» des Menschen an den Menschen – eine soziale Form von V. vor, die als «Hypothese künftigen Verhaltens» dient, «die sicher genug ist, um praktisches Handeln darauf zu gründen»: V. ist ein «mittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen um den Menschen», dem jemand V. schenkt
[41]. Für
N. Luhmann ist «Gegenwart als dauerndes Kontinuum
..., als Gesamtheit der Bestände, an denen Ereignisse sich ereignen können», Grundlage eines V. – im weitesten Sinne: Zutrauen zu eigenen Erwartungen
[42] –, das die Funktion hat, im Zusammenhang sozialer Wahrnehmungen und Interaktionen die Komplexität der Möglichkeiten von Zukunft und der wirklich gewordenen Vergangenheit zu vermitteln und auf ein Maß zu reduzieren, das den Einzelnen in seiner sozialen Umwelt je aktuell leben und handeln läßt
[43]. Indem der vertrauensvoll Handelnde Informationen der Vergangenheit «überzieht»
[44], bietet er anderen eine gemeinsame Zukunft an, in der wachsende Komplexität, die primär durch die Freiheit des anderen in die Welt kommt
[45], durch Verzicht auf weitere Informationen und Kontrolle reduziert wird. Es entsteht eine Vernetzung von zunächst personalen Systemen, die, indem sie – strukturell – auf bestimmte Möglichkeiten festgelegt sind, Sicherheit geben
[46].
Innerhalb der psychoanalytischen Theorie macht
E. H. Erikson den Begriff des Ur-V. stark. So ist der «nuclear conflict of basic trust versus basic mistrust in mere existence ... the first task of the ego», zu dessen Lösung die Qualität der mütterlichen Bedürfnisbefriedigung in der ersten Lebensphase des Menschen Wesentliches beiträgt
[47]. Der Gewinn des Ur-V. bedeutet für das Kind «the basis ... for a sense of identity» mit vertrauensvoller Selbst- und Fremdbeziehung, der des Mißtrauens den Beginn schizoider und depressiver psychopathologischer Prozesse
[48]. Gleichwohl hinterläßt der Konflikt, der die Weichen Richtung Lebens-Angst («primal anxiety») oder Hoffnung («primal hope») stellt
[49], auch in der sich und der Welt (ver-)trauenden Persönlichkeit Spuren «of a primary sense of evil and doom and of a universal nostalgia for a lost paradise»
[50]. Unterschiedliche Bereiche der Psychologie bieten seit den 70er Jahren Definitionen und Erfassungsversuche zur Entwicklung von interpersonellem V., wobei zwischen konkreter V.-Handlung und kognitiver/emotionaler V.-Einstellung sowie zwischen Vertrags-, Freundschafts-, Liebes- und Fremdvertrauen unterschieden wird
[51]. Gemeinsamer Nenner ist – ausgehend von philosophischen und soziologischen Bestimmungen des V. im 20. Jh. – die Auffassung von V. als Sich-Verlassen auf ein Gegenüber angesichts eines ungewissen und risikohaften Ausgangs einer Handlung unter freiwilligem oder erzwungenem Kontrollverzicht
[52]. Besonders anhand des sog. ‘Prisoner's Dilemmaʼ wird V. auch in der Spieltheorie erörtert
[53]. In der analytischen Ethik forciert
A. Baier die Diskussion von «trust»
[54]. Nach
J. Dunns Feststellung, «the rationality of trust within particular structures of social and political relations is a pressing issue in political understanding in any society of the modern world»
[55], erscheint in den 80er und 90er Jahren eine Reihe von politisch-philosophischen Arbeiten, die V. unter den besonderen Bedingungen der modernen Gesellschaft
[56] u.a. als kooperationsfördernd werten
[57]. Auf diesem Wege erhält ‹V.› auch in der Ökonomie einen festen Platz
[58].