Volk (griech.
δῆμος; lat. populus; engl. people; frz. peuple). Der Begriff ‹V.› benennt heute 1. die Bewohner eines Staates, namentlich die Inhaber der Souveränität in der Demokratie, 2. die Angehörigen einer Ethnie mit gemeinsamer Herkunft, Sprache und Kultur bzw. einer sich als auch außerstaatliches V. verstehenden Großgruppe, 3. die ‘einfachenʼ Mitglieder oder unteren Schichten einer Gesellschaft im Sinn von «Volksmassen» im Gegensatz zu «Obrigkeit» oder «Führungsschicht». In Deutschland ist ‹V.›, mehr noch als der verwandte Begriff ‹Nation› (s.d.), um 1800 zu einem politischen Schlüsselbegriff geworden.
Differenzierungen zwischen der politisch-staatlichen Einheit (
δῆμος, ‹populus›), der unpolitischen, ethnischen Größe (
ἔθνος, ‹gens›, ‹natio›), dem «gemeinen V.» oder der «Menge» (
δῆμος, ‹populus›, daneben: ‹plebs›, auch
‹vulgus›) sind schon in der griechischen und römischen Antike erkennbar. Mit der Ausbreitung des römischen Bürgerrechts in der Kaiserzeit bezeichnet ‹gentes› nicht mehr die Rom unterworfenen Völker, sondern nur noch die barbarischen Völkerschaften am Rande oder außerhalb des Reichs.
Germanische Bezeichnungen lauten ‹thiuda›, ‹liut› und ‹folc›. Während ‹folc›, mhd. ‹volc›, vor allem ‹Heerschar› ist (daneben ‹niederes V.›) und ‹liut› die rechtsfähigen Bewohner umfaßt, bedeutet ‹thiuda›, ahd. ‹thiot/deota/diet›, mhd. ‹diet›, das V. im politischen Sinn, beherrscht von einem König (‹thiudans›). In engem semantischem Zusammenhang damit entsteht das Adjektiv ‹deutsch› bzw. ‹theodiscus› (volkssprachig), nachgewiesen seit Ende des 11. Jh. (‹Annolied›) als Benennung für Menschen und Territorien; kurz danach tritt erstmals das deutsche V. («gens teutonica») in Erscheinung, während die im ‹Sachsenspiegel› erwähnten «Deutschen» nur den engsten Kreis der Reichsfürsten bilden. Das deutsche V. entsteht erst sekundär aus den im ostfränkischen Reich zusammengefaßten «gentes», die keineswegs «Stämme», also Untergliederungen einer höheren Einheit sind. Daß «gentes» sich als Abstammungsgemeinschaften verstehen, ändert nichts an ihrer im wesentlichen herrschaftlich-territorialen Definition
[1].
Als der Humanismus um 1500 das Nationsdenken intensiviert, ist der V.-Begriff nicht wesentlich. Staatsrechtlich aufgewertet wird ‹V.› zu Beginn des 17. Jh. durch
J. Althusius, dessen Theorie ähnlich der spätmittelalterlichen des
Marsilius von Padua von der politischen Souveränität des V. ausgeht, wenn auch in der Regierungspraxis ständisch-korporativ eingeschränkt
[2]. Mit Ausnahme der staatsrechtlichen Literatur, wo ‹V.› als ‘populus/Staatsvolkʼ firmiert, dominieren vor 1770 verschiedene Bedeutungen: Die theologische Variante («Gottesvolk») tritt zugunsten der militärischen («Kriegsvolk»), dann zugunsten der soziologischen («niederes V.», untere Schichten) zurück. Daneben bezeichnet ‹V.› auch die Bewohner eines geographischen Gebiets (Bevölkerung). Im 18. Jh. verliert der Sozialbegriff ‹V.› seine abwertende Tendenz. Weit davon entfernt, das V. als handelndes Subjekt zu begreifen, macht die V.-Aufklärung die «Rohheit» und Ungebildetheit des V. zum Gegenstand pädagogischer Bemühungen, bis in der Romantik und im frühen Nationalismus sich das polare Verhältnis von Gebildeten und V. in der Wertung umkehrt. Mit der zweiten Hälfte des 18. Jh. verstärkt sich die synonyme Verwendung von ‹V.› und ‹Nation›.
Entscheidend fundiert
J. G. Herder den Begriff ‹V.› historisch und kulturell. Herder geht von der Gleichwertigkeit der Völker aus und mißt ihrer Vielfalt und Verschiedenartigkeit einen göttlichen Wert bei. Er sieht im V. – nun eindeutig mit der Nation gleichgesetzt – eine Art Kollektivpersönlichkeit, gekennzeichnet durch Sprache und Dichtung, namentlich die Volkslieder, und versehen mit spezifischen kollektiven Eigenschaften wie eigenem Geist und einer Seele. «Wer in derselben Sprache erzogen ward, wer sein Herz in sie schütten, seine Seele in ihr ausdrücken lernte, der gehört zum V. dieser Sprache»
[3].
Neben Herder verhilft die Französische Revolution dem V.-Begriff in Deutschland zum Durchbruch, und zwar in einem durchaus dialektischen Sinn: Zunächst übernehmen die radikalen Intellektuellen ‹V.› als Übersetzung von ‹peuple› als Träger der Souveränität und Kollektiv der dem Gemeinwohl dank politischer Tugend verpflichteten Staatsbürger. Daneben schließt ‹V.› in der Radikalisierungsphase der Revolution den Adel und tendenziell
auch die Großbourgeoisie aus und engt damit auch die begrifflich anfangs dominierende «nation» inhaltlich ein («nation sans-culotte»). Bei
G. Forster sollen Franzosen und Deutsche in den französisch eroberten Gebieten durch gemeinsame Ziele und Ideale «zu Einem V.» verschmelzen
[4].
Während der antinapoleonischen Kriege wird dann der emanzipatorische V.-Begriff gegen den «usurpatorischen» Herrscher gewandt, teils schon mit gemeindeutscher, teils – wie auch der Nationsbegriff – mit partikularstaatlicher Aussage. So richtet Preußens
Friedrich Wilhelm III. 1813, zu Beginn der Befreiungskriege, das Wort «An mein V.» und unterzeichnet 1815, nach Rückkehr Napoleons aus Elba, eine «Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volkes»
[5].
A. von Arnim stellt «alles Herrliche der einzelnen deutschen Völker» dem «hohlen Wortideale von Deutschland» gegenüber
[6]. In den Dichtungen
Th. Körners tritt das gemeindeutsche V. im Krieg als handelnde Einheit in Aktion: «Das V. steht auf, der Sturm bricht los ...»
[7].
Vor allem aber steht ‹V.› im Mittelpunkt der neuen national-deutschen Ideologie, die um 1810 von
J. G. Fichte, E. M. Arndt, F. L. Jahn[8] u.a. durch Verbindung älterer aufgeklärt-patriotischer Ansätze mit kulturnationalen Gedanken, der V.-Geist-Lehre Herders, der Romantik und mit dem Anspruch auf politische Selbstbestimmung der Deutschen kreiert wird. Obwohl man dem deutschen V., «Urvolk» bei
Fichte[9], weiterhin eine menschheitliche Sendung zuspricht, es somit theoretisch an kosmopolitische Ziele bindet, tritt die mobilisierende Funktion des deutschen «Volkstums» (s.d.) im Widerstand gegen Frankreich so eindeutig in den Vordergrund, daß man die französische Nation, das französische V. als Träger des Prinzips des Bösen denunziert. Der frühe «volkstümliche» Nationalismus bis etwa 1820 beinhaltet zudem eine ausgeprägt antijüdische Tendenz – die Juden als eigenes, fremdartiges V. dem deutschen V. gegenüberstellend. Im konstitutionellen Nationalstaat als «Volksstaat» erkennt man die adäquate politische Organisationsform: Er vermittele zwischen dem Einzelmenschen und der gesamten Menschheit.
Die Doppelparole von «Einheit und Freiheit» des deutschen V. enthält im Selbstverständnis der politischen Akteure des Bürgertums keinen grundsätzlichen Zielkonflikt, sondern ein logisch und faktisch zusammengehöriges liberal-nationales Programm. Nationale und kosmopolitische Ziele kollidieren aber spätestens, als 1848 verschiedene Nationalbewegungen mit ihren Ansprüchen aufeinanderstoßen. So bekennt sich im Frankfurter Paulskirchenparlament angesichts der Frage, ob und in welchem Umfang die preußische, überwiegend polnischsprachige Provinz Posen an den neuen deutschen Nationalstaat angegliedert werden soll, die Mehrheit mit dem Abgeordneten
W. Jordan «zu einem gesunden Volksegoismus»
[10].
Der um 1800 entwickelte V.-Begriff beeinflußt die Nationalbewegungen in weiten Teilen (des vor allem östlichen und nördlichen) Europas, im 20. Jh. auch den jüdischen, arabischen und türkischen Nationalismus. Der dänische Dichter und Theologe
N. F. S. Grundtvig begründet, von Herder ausgehend, den Begriff der «folkelighed» (wörtl. ‹Volklichkeit›), der politisch mit der bauerndemokratischen Bewegung des Landes konnotiert und ideeller Bezugspunkt bei der Gründung der freien V.-Hochschulen ist
[11].
Ein konstitutiver staatsrechtlicher Begriff ist ‹V.› im Zeitalter des Konstitutionalismus zunächst, namentlich
in den oktroyierten Verfassungen dualistischen Typs, noch nicht. Doch findet sich die Berufung auf die verfassunggebende Gewalt des V. in den Präambeln zahlreicher einschlägiger Dokumente, angefangen mit der ‹Virginia Bill of Rights› 1776 und der Verfassung der USA 1789 («We the People of the United States»). Im 20. Jh. sehen sich auch autoritäre Regimes, sogar Militär- und Parteidiktaturen veranlaßt, in ihren Verfassungstexten dem V. und damit der demokratischen Idee semantisch Reverenz zu erweisen.
Als Aktivbürger gehört zum politischen V. nur eine mehr oder weniger große Minderheit. Um die von ihnen grundsätzlich befürwortete Beschränkung des Wahlrechts zu begründen, versuchen die gemäßigteren Liberalen, vom «eigentlichen V.», mit Bildung und ökonomischer Selbständigkeit ausgestattet, den die Freiheit bedrohenden «Pöbel» (s.d.) abzuheben. Für uneingeschränkte Rechtsgleichheit aller (männlichen) Staatsbürger und eine auch faktische «Volkshoheit» optieren demgegenüber die radikaleren «Demokraten».
Für den V.-Begriff des Konservatismus und des politischen Katholizismus ist die doppelte Frontstellung gegen den bürokratischen, nivellierenden Absolutismus und den Liberalismus bestimmend. Der Volksorganismus, den die romantisch-konservative Strömung im Auge hat, soll «natürlich», alt- oder neuständisch gegliedert bleiben. Als historische Sprach- und Kulturgemeinschaft lebe das deutsche V. in den dynastischen Einzelstaaten des Deutschen Bundes, die zur spezifischen Volkspersönlichkeit der Deutschen gehörten.
F. J. Stahl bemüht sich, die zeittypischen Auffassungen vom V. als einer ethnischkulturell definierten «Persönlichkeit» aufgreifend, um eine theoretische Systematisierung des V.-Begriffs und seine Verknüpfung mit konservativem, jetzt aber konstitutionellem Staatsrecht. Er unterscheidet einen natürlichen, einen historischen und einen rechtlichen V.-Begriff. Mit der «Einheit der Abstammung» sei dem V. «das Gepräge einer Persönlichkeit» («Einheit des Geistes, der Sitte, der Sprache») gegeben. Somit existiere das «Urbild des Volkes» unabhängig von Fürst und Staat. Historisch sei die Beziehung zwischen V. und Staat demzufolge ein Wechselverhältnis. Allerdings begründe die «gemeinsame Bildung eines Staates», also die Schaffung einer einheitlichen politischen Gewalt, keinen Anspruch auf «neue Konstituierung des europäischen Staatenbestandes nach den Nationalitäten»
[12]. Prägend für die Entwicklung des konservativen V.-Begriffs verteidigt
W. H. Riehl gegen den vermeintlich abstrakten und voluntaristischen V.-Begriff des Liberalismus die «natürliche Frische und Originalität des Volkslebens»; er propagiert eine «Wissenschaft vom V.» und eine konservative Sozialpolitik
[13]. Für den Katholizismus bleibt charakteristisch bis weit ins 20. Jh. die Berufung auf das «katholische V.»
[14].
Anders als in der (nie in Kraft getretenen) ‹Paulskirchen-Verfassung› von 1849, allerdings auch dort ausdrücklich nur im Abschnitt VI (Grundrechte) als Summe der Angehörigen der Einzelstaaten erwähnt, hat der Begriff ‹deutsches V.› im Verfassungstext des Deutschen Reiches von 1871, laut Präambel «ewiger Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes», kein Gewicht. Der einsetzende Integrationsprozeß, der sich nach der Aufhebung der Ausnahmegesetze gegen katholische und sozialdemokratische «Reichsfeinde» auch in den staatlichen Institutionen niederschlägt, ist indessen nicht nur obrigkeitlich-autoritär
begründet. Der Reichspatriotismus des Bismarckschen und Wilhelminischen Deutschland hat eine erhebliche Bandbreite. Während die Konservativen auf die föderale und monarchische Struktur des Reiches abheben und zwischen einzelstaatlichem, «organisch gegliedertem» V. und dem «ganzen» V. des Reiches unterscheiden, hoffen die Liberalen auf die «freiheitliche» Weiterentwicklung des Konstitutionalismus und sehen ihre Politik in dieser Perspektive. Außerdem wird aus ihren Reihen seit den 1890er Jahren ein spezifisch liberal-nationaler Imperialismus propagiert. Doch nur ein Außenseiter wie
F. Naumann geht so weit, eine «vaterländische Demokratie» und eine Art nationalen V.-Kaisertums zu fordern und in der Verbindung von imperial-monarchischem Machtstaat, Sozialreform, patriotischer Massenmobilisierung und Demokratie die Garantie der «Volkszukunft» zu erkennen
[15].
Im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik wird das deutsche V. staatsrechtlich zum Souverän. Laut Art. 1 der ‹Weimarer Reichsverfassung› geht die «Staatsgewalt ... vom Volke aus». «Einig in seinen Stämmen», hat sich das «deutsche V.» die Verfassung gegeben, so die Präambel. Die neue charakteristische Konjunktur des V.-Begriffs in der politischen Sprache setzt jedoch bereits mit dem Ersten Weltkrieg ein. Ein Kritiker des Obrigkeitsstaates wie
H. Preuss, Vater der ‹Weimarer Verfassung›, postuliert die «Identität von V. und Staat» mit der Formel «Staatsvolk im Volksstaat»
[16]. Als Ergebnis des revolutionären Staatsumsturzes vom Herbst 1918 beanspruchen auch die Parteien der Rechten und der rechten Mitte, das deutsche V. zu repräsentieren. Frühere Konservative formieren eine ‹Deutschnationale Volkspartei›; frühere Nationalliberale gründen die ‹Deutsche Volkspartei›; in Süddeutschland leuchtet mit der ‹Bayerischen›, kurzzeitig auch einer liberalen ‹Badischen Volkspartei› ein territorialstaatlich bezogener V.-Begriff wieder auf.
Mit Herausbildung moderner Interessen- und Agitationsverbände erhält der konservative, eher Status-quoorientierte Nationsbegriff eine zunehmend ‘völkischeʼ Ausrichtung. Sozialdarwinistische, rassenbiologische und annexionistisch-imperialistische Ideen haben bereits seit den 1880er Jahren dem Protest gegen die liberalisierenden Konsequenzen der Moderne Nahrung gegeben. Der ‹Alldeutsche Verband› faßt 1894 die «nationale Zusammenfassung des gesamten deutschen Volkstums in Mitteleuropa, d.h. die schließliche Herstellung Großdeutschlands» als Kern eines auch überseeischen Imperiums ins Auge
[17]. Unter Vorsitz von
H. Class (seit 1908) steigert sich die «allein an dem Bedürfnis des deutschen Volkes» ausgerichtete Propaganda zu Expansionsforderungen einschließlich systematischer Aus- und Umsiedlungsmaßnahmen («völkische Feldbereinigung»)
[18]. Andere Impulse gehen von den Nationalitätenkämpfen in Österreich-Ungarn aus und dem ebenfalls dort besonders verankerten Antisemitismus (
G. von Schönerer, K. Lueger), der mehr und mehr «rassische» Gesichtspunkte aufnimmt. Charakteristisch für diese Richtung ist der Bruch mit der staatsbürgerlichen, tendenziell auch mit der kulturellen Definition der Nation, indem die Begriffe ‹V.› und ‹Deutsch› sowohl (vermeintlich) blutsmäßig eingegrenzt (Ausschluß namentlich der Juden, selbst der deutsch empfindenden) als auch muttersprachlich-ethnisch ausgeweitet werden (Inanspruchnahme aller Auslandsdeutschen).
Theoretisch elaboriert wird die Idee des V. als für das Leben der Individuen wie für den Lauf der Geschichte
ausschlaggebenden Faktors, die «völkisch-organische Weltanschauung», von den Vertretern des intellektuellen Rechtsradikalismus nach der Kriegsniederlage von 1918:
W. Stapel, A. Moeller van den
Bruck, M. H. Boehm, E. Jung[19] u.a.
W. Stapel zufolge ist das V. eine unaufhebbare, natürliche Gemeinschaft, der gegenüber den willkürlich veränderbaren Einheiten Staat und Gesellschaft die prioritäre Bedeutung zukomme: «aus einem Staatsverband kann ich ausscheiden, aus einem V. nicht». Wie die meisten volksnationalistischen Theoretiker lehnt Stapel die demokratische Regierungsform ab. Der Volkswille müsse der «Wesensart» des als eigener Organismus verstandenen V., seinem Volkstum, entsprechen und könne «nicht durch eine zufällige Summe von Einzelnen bekundet oder erkundet werden»
[20]. Auch die akademischen Geistes- und Sozialwissenschaften werden nach 1918 vom ethnischen V.-Konzept beeinflußt, und es werden spezifisch ‘volkswissenschaftlicheʼ Forschungen entwickelt.
Vertreter des völkischen Nationalismus in der Weimarer Republik betonen ihre Distanz zum Hurra-Patriotismus der Wilhelminischen Ära und zu rein restaurativen Bestrebungen. Sie berufen sich auf die Protagonisten der konservativen Kulturkritik, in erster Linie auf
P. de
Lagarde und
J. Langbehn, die bereits seit den 1870er Jahren die wesentlichen Elemente des antiliberalen Volksdenkens formulieren: Prägung der Deutschen durch «arisches Blut», «Politik der Blutsverwandtschaft» nach innen und außen, Führerprinzip, «eingeborener Erdcharakter» (daher die Affinität zur «Bauernseele») und «Prinzip der korporativen Gliederung», das allerdings nicht auf den Untertanenstatus der Mehrzahl, sondern auf die ideelle und soziale Anhebung zielt. Als Bestandteil des V. müsse auch der besitzlose, sozialdemokratisch orientierte «Pöbel» «Teil eines aristokratischen Ganzen» werden
[21]. Es sind vor allem die spirituellen, teilweise ausdrücklich religiösen Anklänge des V.-Begriffs bei diesen Autoren, die bei der bürgerlichen Jugendbewegung Resonanz finden. Im Volkstum sucht man das Ursprüngliche, Ganzheitliche und überzeitlich Lebendige, in dem man die eigene Existenz auch in geistig-seelischer Hinsicht schicksalhaft verwurzelt sieht. Auch außerhalb der erklärtermaßen völkischen Bünde dominieren großdeutsche Ambitionen in der Jugendbewegung, und die «Grenzlandarbeit» mit den deutschen Minderheiten in Osteuropa ist ein wichtiges Anliegen.
Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme wird die völkische Weltanschauung zur offiziellen Lehre. «Der Sinn der Revolution, die wir gemacht haben, ist die Volkwerdung der deutschen Nation», sagt
J. Goebbels am 15. November 1933
[22], und noch die Rektoratsrede
M. Heideggers von der Universität als «höchster Schule des deutschen Volkes» verlängert diese Linie
[23]. Die Terminologie (vom «Volksempfänger» bis zum «Volksgerichtshof») und die Propagandaparolen des ‹Dritten Reiches› erscheinen als eine einzige Verherrlichung des V. «Der Staat dient allein den Lebenszwecken des Volkes», stellt ein verbreitetes Lexikon fest
[24]. Das Leitbild der geschlossenen, entindividualisierten ‘Volksgemeinschaftʼ beinhaltet neben der aggressiven Stoßrichtung nach außen die Ausgrenzung derjenigen, die aufgrundvon Abstammung, Gesinnung oder Verhalten als «Gemeinschaftsfremde» definiert werden. Obwohl die rassenbiologische Komponente des V.-Begriffs nicht bei allen Interpreten des Nationalsozialismus gleich stark betont wird, bildet sie für
A. Hitler wie, mehr noch, für die SS-Elite den konzeptionellen Kern.
In der sozialistischen Arbeiterbewegung vieler Länder haben der V.-Begriff und die popularen Anrufungen stets eine große Rolle gespielt. Im späten 19. und frühen 20. Jh. wirkt die Herkunft aus der kleinbürgerlichen Demokratie ebenso nach wie das Bewußtsein, liberales Bürgertum als führende Kraft im Ringen um allgemein demokratische Ziele abzulösen. ‹Volksstaat› heißt das Zentralorgan der 1869 gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, und mit «freier Volksstaat» umschreibt die Partei in ihrem ‹Eisenacher Programm› die Forderung nach der demokratisch-republikanischen Staatsform. Tatsächlich vertritt die organisierte Arbeiterbewegung Forderungen, die nicht allein auf das Industrieproletariat zielen; in ihrer Wählerschaft ist die Sozialdemokratie von Anbeginn auch Partei der «kleinen Leute» schlechthin. Die Benennung sozialdemokratischer Zeitungen als zum V. gehörig und für das V. bestimmt (‹Volksstimme›, ‹Volksfreund› usw. oder in Frankreich ‹Le Populaire›) steht der Orientierung auf den Klassenkampf und den Sozialismus nicht entgegen.
Die sozialdemokratische Vorstellung von Internationalismus hat neben den geschichtsphilosophischen und revolutionsstrategischen Überlegungen stets ein Bündnis der verschiedenen, in ihrem Eigenwert anerkannten Völker beinhaltet. Auf ein nationales «Selbstbestimmungsrecht der Völker», eine alte demokratische und sozialistische Forderung, 1917/18 aktualisiert durch die Parolen der Russischen Revolution und
W. Wilsons ‹Vierzehn Punkte›
[25], beruft sich die SPD im Protest gegen die Versailler Friedensbedingungen mit Vehemenz. Dabei wird das ethnische Bedeutungsfeld des V.-Begriffs mit einbezogen, wenn etwa
P. Löbe am 22. Juni 1919 in der Nationalversammlung davon spricht, «daß wir bei voller Treue zur Internationale zu unserem Volke stehen und daß wir bereit sind, für unser Volk einzustehen und alles ihm zu opfern». Löbe verlangt die «Vereinigung mit unseren ... Brüdern und Schwestern in den Sudetenländern, wie in Wien und Klagenfurt, in Bozen und Meran»
[26].
Dominierend bleiben indessen im Umbruch von 1918/19 und in der Weimarer Republik für die Sozialdemokratie Bezugnahmen auf das V. als politisch selbsttätiges Subjekt, sei es als revolutionäres V. – mit «Volksräten» als terminologischer Variante von Arbeiter- und Soldatenräten, «Volkswehren» als deren bewaffnetem Arm, «Rat der Volksbeauftragten» als provisorischer Regierung –, sei es als republikanisches Staatsvolk, sei es in einer Kombination beider Bedeutungen. Gleichzeitig dient der Begriff sowohl in seiner staatsrechtlich-staatspolitischen als auch in seiner quasi sozialen Bedeutung der politischen Abgrenzung: sowohl vom «antinationalen Monarchismus» der traditionellen Rechten und von der «Politik der bürgerlichen Sonderinteressen» «kapitalistischer Geschäftspolitiker» als auch von kommunistischen und linkssozialistischen Ansätzen. Gemäß dem ‹Görlitzer Programm› der noch nicht wiedervereinigten Mehrheitssozialdemokratie von 1921 will die SPD den republikanischen Staat den Interessen «des arbeitenden Volkes in Stadt und Land» nutzbar machen, und das überwiegend sozialdemokratische ‹Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold› nimmt später das Ringen um die «wahre Volksgemeinschaft» für sich in Anspruch. Die Relativierung der Kategorie «Klasse» ist hier ebenso unverkennbar wie das Bemühen, das V. mit seinen zeitgemäß positiven Konnotationen gegen völkisch-nationalistische Vereinnahmung semantisch zu verteidigen. So wird der V.-Begriff im sozialdemokratischen Exil und Widerstand weiter benutzt, wenn etwa
C. Mierendorff 1943 eine «Volksbewegung
zur Rettung Deutschlands» konzipiert. Nach 1945 verliert das tradierte Verständnis der SPD vom V. an progressiver Emphase und Spezifik
[27].
Auch die kommunistischen Parteien der Zwischenkriegszeit entdecken den V.-Begriff für sich: Trotz verschiedentlich ethnisch-nationaler Bezüge, so bei der ‹Programmerklärung der KPD zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes› vom August 1930, steht die bündnispolitische Werbewirksamkeit des an linksbürgerliche und sozialdemokratische Traditionen anknüpfenden Terminus seitens der kommunistischen Weltbewegung vor allem seit der Entwicklung der ‹Volksfront›-Konzeption im Mittelpunkt. Im konzeptionellen Kern handelt es sich darum, die materiellen Interessen der städtischen und ländlichen Mittelschichten unter Berücksichtigung ihrer mentalen Verfassung mit den Interessen der Arbeiterklasse und ihrer kommunistischen Avantgarde zu bündeln und die vereinheitlichten V.-Massen gegen faschistische bzw. reaktionäre Bestrebungen und die Machtpositionen der Industrie-, Finanz- und Agraroligarchie zu mobilisieren. «Volksdemokratie» nennt sich dann nach dem Zweiten Weltkrieg das in Osteuropa installierte Regime der Angleichung an den Sowjetkommunismus.
Über «das V.» schlägt die KPD, positive Konnotationen nutzend, 1945 eine semantische Brücke zu den anderen in der Sowjetischen Besatzungszone [SBZ] legalisierten Parteien. Die Zusammenarbeit der KPD bzw. SED mit den Blockparteien und den Massenorganisationen führt über die ‹Volkskongreß›-Bewegung zum ‹Deutschen Volksrat›, dem Vorläufer der ‹Volkskammer›. Der erste programmatische Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945 wendet sich an das «Schaffende V. in Stadt und Land». Die Überwindung «der bisherigen Spaltung des Volkes gegenüber Nazismus und Reaktion» und die Herstellung einer «festen Einheit der Demokratie» in Übereinstimmung mit «diesem Willen des Volkes» sei die Gewähr für den «Aufbau eines neuen demokratischen Deutschlands». Andererseits erscheint das «deutsche V.» als sozial nicht differenzierte Haftungsgemeinschaft; es trage «einen bedeutenden Teil Mitschuld und Mitverantwortung», weil es sich zum «Werkzeug Hitlers und seiner imperialistischen Auftraggeber» habe machen lassen
[28]. Mit der Zuspitzung des Ost-West-Konflikts rücken die SED und in ihrem Gefolge die westdeutschen Kommunisten stärker klassenübergreifende, nach außen abgrenzende Gesichtspunkte des V.-Begriffs in den Vordergrund. Anklänge an das «schaffende V.» und die «Volksmassen» bleiben aber hörbar: Im KPD-Wahlprogramm zur ersten Bundestagswahl 1949, «in der Stunde der großen nationalen Not unseres Volkes», geht es um die «Schaffung einer nationalen Front aller Deutschen ..., die ihr V. und ihr Vaterland lieben». Ungeachtet parteipolitischer, religiöser und weltanschaulicher Bindungen sollen sich die Deutschen «auf dem Boden der natürlichen Lebensrechte der Nation» zusammenschließen
[29].
Entsprechend proklamiert die erste Verfassung der DDR die Einheit Deutschlands als «unteilbare demokratische Republik» mit einer einzigen Staatsangehörigkeit (Art. 1), so daß laut Präambel «das deutsche V.» sich die DDR-Verfassung gegeben hat. Mit der Konsolidierung der Zweistaatlichkeit werden Äußerungen seltener und zurückhaltender, die sich auf das gesamtdeutsche V. beziehen. In der Abwehr der neuen Bonner Ostpolitik betont man, so
W. Stoph 1970, den «fundamentalen gesellschaftlichen Unterschied zwischen dem V. in der DDR und dem V. in der Bundesrepublik», womit jetzt die Einheit
der Nation geleugnet wird
[30]. In den revidierten Verfassungen von 1968 (hier noch mit gesamtdeutscher Perspektive) und 1974 gilt «diese sozialistische Verfassung» nur noch für das «V. der Deutschen Demokratischen Republik». Das ‹Philosophische Wörterbuch› definiert ‹V.› «im politisch-soziologischen Sinne» als die an gesellschaftlichem Fortschritt interessierten und dazu objektiv befähigten Klassen und Schichten, nach der seit den 1960er Jahren gültigen Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus auch im Westen die übergroße Mehrheit der Bevölkerung. Die «kleine Gruppe der Monopolbourgeoisie» bilde die «Kategorie der Volksfeinde». Erst mit dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse werde der Begriff ‹V.› identisch mit ‘Bevölkerung des Staatesʼ
[31]. Gegenüber dem Sprachgebrauch in der SBZ/DDR greift man in den Westzonen bzw. der Bundesrepublik weitgehend auf den V.-Begriff der Zeit vor 1933 zurück. Er bezieht sich auf das deutsche Staatsvolk als demokratischen Souverän (wobei dessen Legitimität anders als in der DDR nicht gesellschaftspolitisch, sondern durch Grundrechte, Verfassungsgebung und -trägerschaft, gesichert durch formale Verfahren, begründet wird), enthält aber zugleich ethnisch-kulturelle Elemente. Die Präambel des Grundgesetzes von 1949 stützt sich auf die Legitimation des «deutschen Volkes» in den «Ländern» der Westzonen und Berlins. Diese hätten bei der (provisorischen) Staatsgründung auch für «jene Deutschen gehandelt», denen «mitzuwirken versagt war». Das «gesamte deutsche V.» bleibe «aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Freiheit und Einheit Deutschlands zu vollenden». «Deutsche» im Sinne des Grundgesetzes und des Bundesvertriebenengesetzes von 1961 sind indessen neben den innerhalb der Grenzen von 1937 lebenden deutschen Staatsangehörigen, deren Ehegatten und Nachkommen auch die «deutschen Volkszugehörigen» aus Osteuropa, bei deren Zuordnung man mangels anderer Kriterien an die NS-Zeit anknüpft. Die deutsche Staatsbürgerschaft wird bis 1999 aufgrunddes ‹Reichs- und Staatsbürgerschaftsgesetzes› von 1913 fast allein durch Abstammung von den Eltern erworben.
Nach der westdeutschen Staatsgründung stellt
K. Adenauer fest, die Bundesrepublik sei «allein befugt, für das deutsche V. zu sprechen»
[32]. Diese Grundposition bleibt zwischen den bestimmenden politischen Kräften – ungeachtet aller Kontroversen – bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre unbestritten. Nach der Aufgabe des Alleinvertretungsanspruches durch die sozial-liberale Koalition bestätigt
W. Brandt die «Forderung auf Selbstbestimmung für das deutsche V.»
[33]. Dieses Prinzip wird auch in den folgenden zwei Jahrzehnten von den Staatsorganen und den Parteien wiederholt bekräftigt. Unverkennbar ist, daß schon seit den 1960er Jahren in der Publizistik wie in der Politik die Bezugnahme auf das (gesamt-)deutsche V. tendenziell schwächer wird. Angesichts des Zurücktretens des V.-Begriffs auch in der regierungsamtlichen Deutschlandpolitik nach 1969 (dort zugunsten des Begriffs der Nation) beharrt das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Grundlagenvertrag mit der DDR gegenüber einem lediglich bewußtseinsmäßigen und sprachlich-kulturellen Nationsverständnis auf der Weiterexistenz der gesamtdeutschen Nation als deutschen Staatsvolkes
[34].
Die deutsche Vereinigung wird möglich aufgrunddes revolutionären Handelns des Teil-Staatsvolkes der DDR, das seine Souveränität einfordert («
Wir sind das V.!») und schrittweise die Entmachtung der alten Herrschaftsträger durchsetzt. Das Ergebnis dieses Prozesses,
die Volkskammerwahl vom 18. März 1990, legitimiert faktisch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Auch dieser Schritt, der sich in der veränderten Stoßrichtung der Massenbewegung seit Dezember 1989 abzeichnet («Wir sind
ein V.!»), erfolgt als separate Entscheidung des deutschen Teilvolkes in der DDR; das deutsche Teilvolk in der Bundesrepublik ist als Akteur nur indirekt beteiligt. Der Verzicht auf eine neue Verfassungsgebung, und sei es nur durch ein Plebiszit über das revidierte Grundgesetz, bleibt umstritten.
Offen ist, wie sich der Begriff ‹deutsches Volk›, aber auch überhaupt das Konzept ‹V.› im Zeichen der Herausbildung von Elementen einer europäischen Staatlichkeit, globaler Migration sowie eines generell veränderten Staatsverständnisses wandeln könnte.